Die rote, die blaue oder doch die schwarze Pille? Für die Männer, die sich im Internet dem unfreiwilligen Zölibat verpflichtet haben, dem „involuntary celibate“, gibt es nur eine Wahl: Die schwarze Pille oder in der Szene auch „Black Pill“ genannt.
Das Pillensystem ist inspiriert vom Blockbuster „Matrix“, bei dem Protagonist Neo vor die Wahl gestellt wird eine rote oder blaue Pille zu schlucken. Wenn er die rote Pille schluckt, wird er die Wahrheit sehen, nimmt er die blaue Pille, lebt er weiter wie bisher. Die rote Pille steht in der „Manosphere“ (Netzwerk aus Männern, die sich in einer Gesellschaft sehen,in der Männer unterdrückt werden) für das Erkennen, einer vermeintlich vom Feminismus durchdrungenen Gesellschaft in der Männer unterdrückt werden. Incels jedoch nehmen keine von den oben genannten Pillen. Sie entscheiden sich für die sogenannte „Black Pill“.
Incels
Während die Anhänger der „Red Pill“- Ideologie noch versuchen, durch das Erlernen von Verführungstechniken eine sexuelle Beziehung zu Frauen zu erreichen, schließen „Black Pill“- Anhänger diesen Kontakt zu Frauen grundsätzlich aus. Die „Black Pill“- Ideologie akzeptiert zwar die Vorstellung der „Red Pill“- Ideologie, dass sie in einer von Frauen dominierten Gesellschaft leben, lehnt jedoch individuelle Versuche zur Verbesserung des sexuellen Erfolgs mit Frauen ab. Stattdessen behaupten „Black Pill“- Anhänger, dass Frauen ihre Partner ausschließlich nach physischen Merkmalen auswählen. Die „Black Pill“ -Anhänger nennen sich auch Incels. Incels sind Männer, die glauben, dass es unattraktive und benachteiligte Männer gibt, die niemals sexuellen oder romantischen Erfolg haben werden. Der allgemeine Konsens in der Szene ist, dass wir in einem Matriarchat leben, in dem Frauen die Entscheidungsmacht über die Partnerwahl besitzen und dadurch auch die Macht in der Gesellschaft haben. Der Begriff „Incel“ setzt sich aus den Wörtern „involuntary“ (unfreiwillig) und „celibate“ (enthaltsam) zusammen und beschreibt Männer, die unfreiwillig im Zölibat leben. Um sich ein Bild davon zu machen, habe ich die größte englischsprachige Incel – Webseite „INCELS.IS“ besucht. Nun werde ich selbst einen Eindruck von der Szene bekommen.
INCEL.IS: Ein erster Einblick in das Incel Universum
„Welcome! This is a forum for involuntary celibates: people who lack a significant other. Are you lonely and wish you had someone in your life? You’re not alone! Join our forum and talk to people just like you“. Mit diesem Satz werde ich auf der Seite INCELS.IS begrüßt. Die Begrüßung wirkt erstmal harmlos, erinnert mich an ein Selbsthilfeportal. Die dunkelblaue Hauptseite ist übersichtlich gestaltet. Auf einem Farbewechselndem Hintergrund fliegen lauter animierte Kapseln herum. Die „Black Pills“. Auch finde ich das Incel- Wiki und den dazugehörigen Blog verlinkt. Als erstes sticht mir ein orangenes Info Item ins Auge. „Rules & FAQ“ lese ich. Ich klicke drauf und erkenne direkt, dass ich nicht erwünscht bin.
Woman and LGBT individuals (Not allowed).
INCEL.IS
steht dort weiß auf dunkelblau. Nur das „not allowed“ wurde extra noch einmal fett geschrieben und in rot eingefärbt. Außerdem sind Non- Incels und unter 18 Jährige streng verboten. Auch die Regeln weichen von anderen Foren ab. Es heißt, dass man sich im Forum nur über bezahlten Sex austauschen darf, jegliche Erwähnung von romantischen oder sexuellen Erfahrungen ist ausdrücklich verboten und wird mit einem Rauswurf oder einer Verwarnung bestraft. Ich finde außerdem noch andere Regeln: „Do not persecute, harrass or attack others“. Alles klar, jetzt weiß ich Bescheid.
Wie denken Incels?
Incels denken in Hierarchien: So daten Frauen immer von oben nach unten und bevorzugen die attraktivsten Männer („Chads“), während die unattraktivsten Männer („Incels“) meist leer ausgehen. Der Diskurs ist von einer frauenverachtenden Rhetorik geprägt. Die Ideologie basiert auf der Vorstellung eines vermeintlichen Anspruchs auf Sex oder Frauenkörper. Die meisten Incels sind misogyne junge Männer, die sich in Online-Netzwerken, wie INCEL.IS, organisieren. Es ist wichtig anzumerken, dass Incels keine einheitliche Gruppe sind. Sie unterscheiden sich in ihren Ideologien sowie in der Radikalität und Intensität ihrer Ansichten, ihres Selbsthasses und ihres Frauenhasses, sowie ihrer Bereitschaft zur Gewalt.

„How is it even possible to not hate woman?”
Ich wage mich nun tiefer in die Incel Szene. Unter der Kategorie „Inceldom Discussion“ finde ich über 100.000 Gedankengänge aus der Community. Die Threads sind dabei durch Kategorien gekennzeichnet. Es gibt Kategorien wie „Black Pill“, „Serious“ und „Experiment“ aber auch besorgniserregende Kategorien wie „Suicide Fuel“, „Toxic Femininity“ oder auch „Brutal“. Ein Thread in der Kategorie „Discussion“ fällt mir dabei besonders ins Auge: Ein User will unter der Überschrift „How did men become so unware of womans true nature?“ beweisen, dass historische Quellen die natürliche Minderwertigkeit von Frauen gegenüber Männern betonen. Er schlägt vor, Frauen stark zu beschränken und sie von der Regierungsführung auszuschließen. Aus eigener Erfahrung bestätigt er:
After interacting with women, I have come to the conclusion that not only women have no zero empathy for men, they take active pleasure in causing men harm and damage.
INCEL.IS
Ich klicke mich weiter durch. Auch der zweite Post hat eine ähnlich problematische Nachricht. Ich lese die Überschrift: “I honestly don’t understand. How is it even possible to not hate women? (WARNING ⚠ SUIFUEL)”. Am Anfang des Posts ist ein Zusammenschnitt von einigen Tweets verlinkt. Der Inhalt ist in allen Tweets gleich: Es sind diskriminierende Aussagen gegenüber kleinen Männern. Der User gibt darunter seinen Kommentar ab. Er sagt, dass man Frauen für solche Aussagen verachten und hassen muss. Man komme gar nicht darum herum. Besonders sticht mir eine rot eingefärbte Aussage ins Auge: “Most men are “nice” to all women whereas most women are only nice to Chad and Chad only.” Chads, damit meint er gutaussehende Männer, denen alles im Leben in den Schoß fällt. Die Kommentare bestätigen den User und artikulieren offen Hate Speech gegen Frauen:
All of those whores in that video should be enslaved by sandni**** in the middle east for sexual pleasure” “I hope all these whores died a painful death (in videogame ofc).
INCEL.IS
Ich gehe wieder zurück zur Startseite. In der letzten Kategorie „Must Read Content“ finde ich Threads die von der Community selbst als wichtig bzw. besonders lesenswert angesehen werden. Dort finde ich Überschriften wie „Females are Pychopaths – A Socio-Historic Review“ oder auch „Brain Structure different by Gender“. Als ich die Essays durchlese, wird schnell deutlich, wie viel Mühe in die pseudo-wissenschaftlichen Argumente investiert wurde, die Frauen als minderwertig darstellen und einen vermeintlichen Herrschaftsanspruch der Männer belegen sollen. Die Mehrzahl der Threads finde ich zutiefst erschreckend. Sie machen deutlich, wie stark Frauenhass in der Incel-Szene verankert ist. Die Beiträge offenbaren nicht nur eine bedrohliche und verzerrte Weltanschauung, die Frauen pauschal als minderwertig und schädlich darstellt, sondern zeigen auch eine gefährliche Bereitschaft zur Gewalt. In der gleichen Kategorie finde ich auch „Experimente“, bei denen Frauen im realen Leben an Orte gelockt und dort von ihrem vermeintlichen Date über Textnachricht abgewiesen werden, weil „er sie gesehen hat und sie hässlicher ist als auf ihren Bildern“. In den Kommentaren feiern sich die Männer gegenseitig für die gelungenen Täuschungen. Diese „Experimente“ verdeutlichen, wie die Ideologie der Incels bereits im echten Leben ausgelebt wird.
Die doppelte Natur von Incel – Netzwerken
Incel- Netzwerke sind Echokammern für Frauen- und allgemein menschenverachtende Kommentare, Gewaltfantasien und Hate Speech. Jedoch suchen auch einige Nutzer in diesen Foren nach emotionalem Support. Sie finden dort Menschen mit ähnlichen Lebensrealitäten und fühlen sich nicht allein gelassen in ihrem Selbsthass. Veronika Kracher, Autorin des Buches „Incels: Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults“ sagt im Interview mit mir, dass es in der Biografie von Incels immer wieder Parallelen gibt. Viele dieser Männer erleben während ihrer Schulzeit, dass ihre Mitschüler:innen erste sexuelle oder romantische Erfahrungen sammeln. Durch das Ausbleiben dieser Erfahrungen entsteht oft Verbitterung und die eine Erfahrung von Unfähigkeit im Umgang mit Frauen. Kracher betont trotzdem, dass das, was wir da hören, primär die Incel- Perspektive darstellt. “Man kann Incels nicht losgelöst sehen von einer patriarchalen Gesellschaft und Phänomenen, die damit einher gehen.“, sagt Kracher.
Incels: Männer ohne Hoffnung oder gefährliche Bedrohung?
Beim weiteren Durchklicken der Seite fällt mir noch mehr auf. Vor allem merke ich, wie verzweifelt die Männer mit ihrem eigenen Leben sind. So finde ich einen Thread, in dem der User sagt:
Incel -Trait: Im the only guy in my uni group chat that has no profile picture.
INCEL.IS
Ich lese, dass andere Community Member dem User gut zu sprechen und sagen „I too was a loser in College“ oder ihm bestätigen, dass es in Ordnung ist, wenn man nicht sein Gesicht zeigen will, weil man sich zu hässlich findet. Auch finde ich immer wieder User, die sagen, dass sie schon seit der Geburt Incels sind aber vor allem in der Schule gemerkt haben, dass sie keinen Erfolg bei Frauen haben und deshalb zum Incel geworden sind. Immer wieder lese ich vermeintliche Beweise dafür, dass Frauen nur auf das Äußere bei Männern schauen. Ein User schreibt: „Almost 200 Pornstars say size matters” oder “Balding is terrifiying”. Ich lese Frauen- und menschenverachtende Kommentare. Außerdem wird viel Antisemitismus und Rassismus reproduziert. Über Menschen jüdischer Herkunft schreibt jemand:
They are responsible for our inceldom . At least of us in the west.
INCEL.IS
Antifeminismus ein gesamtgesellschaftliches Problem
Incels werden mittlerweile nicht nur als Gefahr für die Sicherheit in Amerika anerkannt. Auch bei uns in Europa stellt der Antifeminismus im Internet eine große Gefahr dar. Ein Beispiel dafür ist der rechtsextreme Attentäter, der im Oktober 2019 in Halle versuchte, eine Synagoge anzugreifen und anschließend in einem Döner-Imbiss zwei Menschen erschoss. Während seines Prozesses wurde deutlich, dass er sich unter anderem im Internet radikalisierte – insbesondere auf Plattformen wie „8chan“. Diese Plattform war auch ein Treffpunkt für die Attentäter von Isla Vista und Christchurch. Alle drei bezeichneten sich als Incels. Auch in den USA und in Kanada sind mittlerweile schon mehr als 50 Personen durch Incel- Attentate ums Leben gekommen. Autorin Veronika Kracher sagt: „Das Ganze ist als Form von stochastischem Terrorismus zu klassifizieren“. Unter stochastischem Terrorismus versteht man das Phänomen, bei dem ein bestimmtes, oft digitales Umfeld besteht, das keine direkte Gewalt garantiert, jedoch die Wahrscheinlichkeit für Gewalttaten erhöht. Kracher sagt, dass das Umfeld Gewalt fördert.
In Deutschland gibt es keine Hilfsangebote für Incels. Kracher kritisiert, dass eine „Form von Ausstieg auf selbstorganisierter Ebene verlaufen muss“. Nicht alle Nutzer in den Foren werden zu Tätern. Es ist wichtig Ausstiegshilfen aus der Szene zu schaffen, um den Männern wieder eine Perspektive im Leben zu geben. Um die „Black Pill“ wirklich aus der Gesellschaft zu verbannen, muss angefangen werden misogyne Gewalt in Deutschland ernst zu nehmen und ihre Ursachen zu bekämpfen.
Veronika Kracher ist für ein striktes Deplattforming. Das würde bedeuten Einzelpersonen oder Gruppen von Online-Plattformen wie sozialen Netzwerken oder Foren auszuschließen. Sie sagt: „Es braucht eine gesellschaftliche Awareness für Antifeminismus.“ Und: „Dadurch, dass wir hier schon darüber reden, zeigt sich, dass es eine größere Awareness in Bezug auf Antifeminismus gibt. Aber die impliziert auch einen gesellschaftlichen Backlash, der dann besonders durch konservative Parteien wie der CDU und vor allem der AFD vertreten wird. Es braucht einfach eine breitere gesellschaftliche Akzeptanz von Misogynie und Antifeminismus als Problem.“ Auch sieht sie dabei die Politik und Pädagogik in der Verantwortung. Besonders unterstreicht Kracher dabei die Rolle von Männern. Sie sagt, dass es wichtig ist, dass „es sich bei Männern durchsetzt, dass sie egalitäre Beziehungen führen müssen und, dass von klein auf Jungs vermittelt wird, dass sie ihre Geschlechtsidentität aufbauen können ohne Mädchen und nichtbinäre Menschen oder queere Jungs abzuwerten.“ Sie fasst zusammen: Antifeminismus und Misogynie ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, was eine gesamtgesellschaftliche Veränderung braucht.
Nach fünf Stunden in den Incel-Foren schließe ich meinen Laptop. Genug. Die Dinge, dieich dort lese machen mir Angst und obwohl es Anzeichen für Fortschritt gibt, ist mir klar, dass wir noch einen weiten Weg vor uns haben. Eines steht für mich fest: Feminismus ist nach wie vor unverzichtbar – besonders im Internet, wo er heute dringender gebraucht wird als je zuvor.
von Klara Bock