Erst Esel, dann Hund, dann Katze, dann Hahn. Diese Tierpyramide ist wohl die berühmteste Darstellung der Bremer Stadtmusikanten. Wie viele Touristen von diesen tierischen Gefährten nach Bremen gelockt werden, durfte Catharina Hövermann schon bei ihrem ersten Besuch der Skulptur am Rathaus feststellen. Dabei ist die Tierpyramide längst nicht mehr nur in Bremen zu finden, wie sie durch weitere Recherche herausfand…
Die Tierpyramide als Prinzip
“Was ist das?”, frage ich mich, als ich vor die Bremer Kunsthalle trete und vor einer Pyramide aus aufgestapelten Objekten stehe: Ein türkiser Oldtimer, ein gelber,alter Kleinbus, ein Moped, ein Fahrrad… und an der Spitze ein Transistor. Ohne diese Skulptur vorher je gesehen oder von ihr gehört zu haben, verbinde ich sie direkt mit den Bremer Stadtmusikanten. Diese ikonische Pyramide hat einfach Wiedererkennungspotenzial. Der belgische Künstler Maarten Vanden Eynde wollte mit der Skulptur Pinpointing Progress die Entwicklung der Technik darstellen. Nun parkten die Bremer Stadtmusikanten bis September vor der Kunsthalle Bremen. Je weiter sich die Pyramide nach oben zuspitzt, desto jünger werden die Objekte. Es geht um Fortschritt, Weiterentwicklung: Die neue Technik ersetzt die alte. Die alte Technik wird für die Menschen irgendwann genauso nutzlos wie die Bremer Stadtmusikanten es für die Hofbesitzer waren. Aber waren nicht Oldtimer auch schon immer etwas ganz Besonderes für uns? Etwas, hinter dem geheimnisvolle, alte Geschichten steckten?
Pyramidenformen in allen Varianten in der Kunsthalle
Das Aufeinanderstapeln zu einer Pyramide symbolisiert Zusammenhalt, Stärke, Unzerstörbarkeit. Genau das war die Intention von Gerhard Marcks, als er die Skulptur der Bremer Stadtmusikanten 1953 an der Westseite des Rathauses aufgestellt hat, die jedes Jahr von tausenden Touristen bestaunt wird. Nach seinem Vorbild entdecke ich in der Kunsthalle verschiedene Arten von Pyramiden. Im Ostflügel der Kunsthalle befinden sich vier aufeinandergestapelte Stühle von dem Künstler Martin Creed, die nach oben hin an Größe abnehmen. Vielleicht ein alltägliches Bild, und doch denkt man hier in der Kunsthalle in direkten Verbindungen zu der berühmten Tierpyramide. Nicht vier, sondern gleich fünf Tiere zu einer Pyramide geschichtet, hat Jeff Koons in seinem Werk „Stacked“: Ein Schwein, eine Ziege, zwei Hunde und einen Vogel. Im Gegensatz zu der Skulptur von Marcks ist diese Pyramide sehr verniedlicht und kitschig.
Der Künstler Maurizio Cattelan mit seinen Werken „Love Saves Life“ und „Love Lasts Forever“ ist das Herzstück der Ausstellung. Für „Love Saves Life“ nutzt er echte Tierpräparate von Esel, Hund, Katze, Hahn. Wie Marcks zeigt er auch den Moment des Märchens, in dem die Tiere mit Geschrei die Räuber vertreiben gemäß dem Motto: Mit Kreativität und Freundschaft können wir jeden Kampf gewinnen. Paradox ist nur, dass sie in dem Moment sterben, in dem sie ihr neues Leben anfangen. Für „Love Lasts Forever“ verwendet er Skelette, die aber verdeutlichen sollen: Die Liebe währt ewig.
Von der Entwicklung des Bildmotivs bis zur Institutionalisierung – warum das Märchen in Bremen zunächst nicht beliebt war
Mit der Vermittlung dieser Werte – ob durch Bild, Text oder Skulptur – zählen die Bremer Stadtmusikanten nicht umsonst international zu den bekanntesten grimm’schen Märchen mit Ausgaben unter anderem in spanischer, estnischer, russischer, türkischer und arabischer Sprache.
In Bremen selbst wurden die Stadtmusikanten jedoch erst recht spät berühmt. Die stolze Handelsstadt wollte sich nicht mit den vier Tieren identifizieren – die Verbindung von Elend und Katzenmusik schien im Vergleich zu Bremer Symbolen wie dem Roland nicht sehr attraktiv. Die Bremer Stadtmusikanten mussten sich zunächst gegen die beliebteren Märchen wie Schneewittchen, Aschenputtel oder Rotkäppchen durchsetzen. Geschichten, bei der eine Dame gerettet werden musste. Wohl auch deswegen sah man nicht ein, Geld für teure Illustrationen der Bremer Stadtmusikanten zu investieren. Die Engländer sahen die deutsche Märchentradition allerdings eher als Schankmärchen: Man erzählte sie sich in der Kneipe bei einem Bier. Daher waren dort vor allem die derberen Märchen, wie eben das der Bremer Stadtmusikanten, beliebt und man entschloss sich die Erzählung zu illustrieren. Deswegen setzte die Bildgeschichte des Märchens nur vier Jahre nach seiner Veröffentlichung in England ein. 1823 brachte der Zeichner George Cruikshank die Tierpyramide und den Einbruch in das Räuberhaus aufs Papier. Nach und nach wuchs mit der Institutionalisierung des Märchens auch das Interesse der Ursprungsstadt an der eigenen Erzählung.
Vielfalt garantiert: Die Bremer Stadtmusikanten international
Die Bremer Stadtmusikanten kommen gar nicht aus Bremen, sondern aus Namibia! Oder war es doch Riga? Kaum zu glauben, aber wahr: Die Bremer Stadtmusikanten findet man auch in anderen Orten der Welt. Hier ein kleiner Überblick über die bekanntesten Skulpturen:
1991 schenkte die Stadt Bremen ihrer lettischen Partnerstadt eine Skulptur von Christa Baumgärtel, die an der Petrikirche in Riga aufgestellt wurde. Anders als bei dem deutschen Vorbild brechen die Tiere in dem Kunstwerk nicht in das Räuberhaus, sondern durch den eisernen Vorhang zur Zeit des Kalten Krieges ein.
Löwe, Nashorn, Nilpferd und Huhn – das sind die Bremer Stadtmusikanten in der namibischen Variante in Windhoek.
Auch in Deutschland findet man das Tierquartett an weiteren Orten, unter anderem in Leipzig und Erfurt.
Ob in Bremen, Riga, Kawasaki oder Windhoek – die Geschichten und Kunstwerke rund um die Bremer Stadtmusikanten verbinden Menschen auf der ganzen Welt, Ihre künstlerische, erzählerische oder kitschige Darstellung bedeutet also vor allem eins: Vielfalt. Die Stadtmusikanten vermitteln unterschiedliche Werte, die Kinder genauso betreffen wie Erwachsene, Arme genauso betreffen wie Reiche, Schwarze genauso betreffen wie Weiße, Tiere genauso betreffen wie Menschen. Sie sind zeitlos und universell.
von Catharina Hövermann