Zuletzt wurde an dieser Stelle über die reichlich gemolkene Kuh der Castingshows und deren hoffentlich zeitnahem Abtritt geschrieben. Doch was, wenn heulende Kandidaten und inkompetente Jurys aus dem Flimmerkasten verschwinden? Ist das der Anfang der wirklich großen Realtainment-Welle? Und was ist das überhaupt?
Alina ist sauer: Sofi hat ihr einen Umschlag mit 1.000 Euro geklaut. Das kann Sofi ihr natürlich nicht beichten, wegen der Freundschaft und so. Alina glaubt daher, dass Peggy es war. Schweigt Sofi, kracht‘s bei Alina und Peggy. Auch der nervige Ole hat wieder etwas dazu zu sagen. Nichts Gutes meistens. Geld spielt für ihn sowieso keine Rolle. Er ist nämlich Schlagerstar. Auf Malle. Weißte Bescheid.
Im wahren Leben heißt ‘Alina’ Saskia Beecks, 26 Jahre alt. Wie viel diese Identität noch wert ist, vermag man angesichts der Realtainment-Strategie des Senders RTL II allerdings nicht zu sagen. Mit einer, zugegeben gar nicht schlechten, Marketingstrategie, die vor allem in den Sozialen Netzwerken mit riesigem Erfolg einschlägt, haben die Macher von „Berlin – Tag und Nacht“ für ihre Darsteller seit September 2011 eine Scheinwelt erschaffen, die von der Realität nicht mehr zu trennen ist.
Je realistischer die Fiktion, desto besser.
„Realtainment“ nennt man das beim Kölner Sender. „Scripted Reality“ ist dagegen schon ein alter Hut, von dem man sich tunlichst abzugrenzen versucht. Wacklige Kameraführung, einfache, nahezu spontane Dialoge und auch wahrhaftige Missgeschicke (ein Schauspieler soll sich beim Dreh einmal tatsächlich und nicht nur aus dem Skript heraus die Hände aufgeschnitten haben) sollen dabei helfen. Und natürlich die Verbindung der vorhandenen, städtischen Realität mit der Berliner Scheinwelt, in der vor allem Stereotype, Liebes- und Eifersuchtsdramen, schwangere Teenies und durchweg tätowierte Proleten an der Tagesordnung sind.
Besonders effektiv gelingt den Machern die real-fiktive Verknüpfung mit massentauglichen Mitteln, die auch weiterhin die Zielgruppe des Formats bedienen. So tauchen die Serien-Figuren vermehrt auch in anderen RTL-II-Produktionen auf. Vom Klarnamen ist dabei meistens keine Spur. Ein Umstand, der inzwischen auch die Medienhüter der Kommission für Zulassung und Aufsicht (ZAK) auf den Plan gerufen hat, da ein fiktiver Charakter des Kölner Spin-Offs „Köln 50667“ in den RTL II News zu Wort gekommen ist, ohne dass auf die Fiktion hingewiesen wurde.
Fiktion wird Realität – „ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt“
Doch die Vermischung von Realität und Fiktion geht noch weiter: So hat es RTL II geschafft, den Charakter Ole aus der fiktiven Welt zum Schlagerbarden in der realen Welt zu machen. „Ole ohne Kohle“ war auf Mallorca im vergangenen Sommer ein gern gesehener Gast. Dass Ole eigentlich Falko heißt, scheint der Laiendarsteller selber manchmal vergessen zu haben.
Doch soll das die Zukunft des deutschen Fernsehens sein? Quote und Konzept von „Berlin – Tag und Nacht“ sprechen sicher für das Format. Seit ihrem Start ist die Serie vor allem bei den jungen Fernsehzuschauern unerwartet erfolgreich eingeschlagen, zweistellige Marktanteile bei der werberelevanten Zielgruppe sind bereits lange Standard und auch beim Gesamtpublikum liegt der Reichweitenrekord bei stolzen 1,73 Millionen Zuschauern. Auch der Kölner Ableger „Köln 50667“ verzeichnet seit seinem Bestehen verhältnismäßig gute Zahlen, wenn auch mit gebührendem Abstand zur „Mutter-Serie“. Kein Wunder, dass seit geraumer Zeit Gerüchte über den Start einer Hamburger Serie mit gleichem Konzept kursieren.
Die neuen falschen Freunde
Hinzu kommt ein wirklich großer Erfolg bei Facebook, der auf eine simple Idee zurückzuführen ist. Denn dort gibt es für die „Freunde“ der Sendung tatsächlich Mehrinformationen in Form von Posts, Fotos und auch Videos, die aus Sicht der Charaktere formuliert, in rauen Mengen online gestellt werden. Über 2,6 Millionen Facebook-Follower interessiert das derzeit. Der ewige Quoten-Marktführer im Vorabend-Programm, „Gute Zeiten schlechte Zeiten“, kann da mit knapp 1,2 Millionen Freunden nicht ansatzweise mithalten.
Das alles sind vielleicht keine endgültig überzeugenden Argumente und auch kein Gradmesser dafür, dass das „Realtainment“ die marktführende Stellung der Castingshows einnehmen könnte. Dennoch gilt es, solche Formate im Auge zu behalten, wenn man über die Zukunft des Fernsehens spricht. Vor allem gilt es, das fehlende Niveau immer wieder zu erwähnen und beständig vor der weiteren Auflösung der Grenze zwischen Fiktion und Realität zu warnen. Alina, Peggy und Sofi sind nicht wie die Kölner „Fussbroichs“ als Grimme-Preis-prämierter Begründer der TV-Doku-Soaps eine wahre Familie, die jahrelang in ihrem Alltag begleitet wurde. Sie sind Laiendarsteller, denen eine neue Identität auf den Leib geschneidert wird. Wer ihnen dabei künftig zuschauen wird, lässt sich ohne magische Kristallkugel nicht sagen. Bleibt zu hoffen, dass es nicht zu viele werden. Die Zukunft des Fernsehens kann und sollte auch anders aussehen.
Fabian Nitschmann