Lange Zeit waren sie zu dritt. Dann bekam Jonas* einen Bruder und alles wurde anders. Denn sein Bruder ist Autist. Anders bedeutet aber nicht schlechter. Sein Leben wurde durch die Krankheit seines Bruders einzigartig.
In der Norm liegt für Jonas eine große Leere. Er dreht sich einmal um sich selbst und betrachtet seine Welt: In seinem Atelier in Hamburg entspricht nichts der Norm. Auf mehreren Regalen stehen Büsten aus grauem Ton mit Knollen- und Hakennasen oder spitzem Kinn, Loriots Herren im Bad planschen in der Badewanne, eine Zombiepuppe klammert ihre knochigen Finger um die Gitterstäbe ihres Gefängnisses und schreit dabei so laut, wie es die Technik ihres Erzeugers ihr erlaubt. Über der Tür hängt ein zwei Meter großer Totenkopf, der sich leicht hin und her wiegt, wenn Jonas (36) mit energischen Schritten sein selbst geschaffenes Reich betritt. In der Halle mit den weißen Wänden und den großen Fenstern riecht es nach warmer Erde, Lehm, Plastik oder Holzspänen. Seine Welt aus Puppen, Figuren, Filmkulissen und Kunstwerken kann jeder betreten. Man muss nur eine Klinke herunterdrücken und einen Fuß über die Schwelle setzen, schon ist man drin.
In die Welt seines Bruders David hineinzukommen ist beinahe unmöglich. Sein Autismus verschließt ihm die Tür zur Welt der Anderen, den Gesunden, die keine psychische Krankheit haben. David lebt in dieser und doch in einer parallelen Welt, in der es keinen Platz für Emotionen oder ernste Gespräche gibt. Er sieht viele Dinge, die anderen im alltäglichen Trott nicht auffallen, nimmt jedes Geräusch und jede Farbe um ein Vielfaches intensiver wahr. Es ist eine Begabung, aber auch ein Fluch, dem er sich nicht entziehen kann. Sein Gehirn empfindet jeden Eindruck als gleich wichtig, es sortiert die Ereignisse in seinem Leben nicht nach Priorität. So wird David ständig von Reizen überflutet. Und er zieht sich zurück in sich selbst. Dort ist es ruhiger und niemand stört ihn. Niemand weiß, wie es wirklich in ihm aussieht.
Zusammen ist man weniger allein
„Ich glaube, es gibt niemanden, der einsamer ist als er“, sagt Jonas und rührt langsam in seiner Tasse Schwarztee, verharrt in der Bewegung und spricht nicht weiter. Der Gedanke braucht keine Erklärung. Und doch: „Wir wurden vom Schicksal gezwungen und haben uns ihm gestellt.“
Das erste Mal führte das Schicksal die beiden Brüder am 19. März 1981 zusammen, nachdem David auf die Welt gekommen war. Da war sein älterer Bruder gerade einmal sechs Jahre alt. Doch Jonas verstand schnell, dass die Geburt vieles verändert hatte. Seine Eltern machten besorgte Gesichter, sagten ihm, dass sein Bruder krank sei und dass er vielleicht nicht lange bei ihnen bleiben könne, weil er jederzeit sterben könnte. Dass David Autist ist, wurde erst viele Jahre später festgestellt.
Die ersten zwei Wochen seines Lebens verbrachte David mit seiner Mutter im Krankenhaus in einem Brutkasten. Das Fruchtwasser, in dem er gelegen hatte, war grün, er hatte einen Storchenbiss und ein kleines Loch in seinem walnussgroßen Herzen. „Er hat ständig geschrien, konnte Nahrung nicht bei sich behalten. Es war als wollte er gar nicht leben. Aber meine Mutter, die hat gekämpft wie eine Löwin“, ruft Jonas aus und nickt. Da ist Bewunderung und Stolz in seinen Worten. David gab den Ärzten lange Rätsel auf. Die Ärzte gaben ihm eine Lebensaussicht von sechs bis maximal sieben Jahren. „Aber wir haben unser Happy End bekommen. Es war eine harte Zeit, aber es war richtig so.“
„Mit einem Autisten in der Familie gesegnet“
Die Diagnose „frühkindlicher Autismus“ kann Familien zerstören, die mit der Belastung nicht zurecht kommen. Sie fühlen sich vom Leben ungerecht behandelt. „Unsere Familie hat es stark gemacht, enger zusammen gebracht.“ Die Krankheit hat jedem Familienmitglied viel abverlangt. Der Mutter, dem Vater, David selbst und seinem älteren Bruder. „Ich war ein König in meinem eigenen Reich. Und dann kam David.“ Jonas’ Kindheit war sechs Jahre lang gefüllt mit allen Vorzügen eines Einzelkindes. Er wurde verwöhnt, mit Liebe, Geschenken und Aufmerksamkeit überhäuft.
„Aber plötzlich war da jemand anderes, mit dem sich alle beschäftigten.“ Jonas empfand Eifersucht und Wut, als er sah, dass David mehr Beachtung fand als er, ohne etwas dafür tun zu müssen. Er steigerte sich in seine selbst geschaffene Ungerechtigkeit hinein, entwickelte Asthma. „Mein Körper hat bewusst auf meine Seele reagiert.“
Die Reaktion seiner Eltern auf sein Verhalten fiel aber anders aus, als er sich erhofft hatte. Die Erziehung wurde strenger, der König entthront. „Für meinen Vater und meine Mutter war es eine schwarze Zeit, da konnten sie sich nicht auch noch mit meinen Allüren befassen“ , sagt er und schaut mit seinen blauen Augen auf seine großen feingliedrigen Hände. Eine Krankheit, an der er selbst nie litt, hat sein Leben verändert. „Und dafür bin ich dankbar. Der Autismus meines Bruders hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin.“ Und der Mensch der er heute ist, ist selten. Ein Mensch, für den ein guter Film damit endet, dass sich die Bösewichte am Ende in den Armen liegen. Er hat sich die Unschuld eines Kindes bewahrt. Obwohl er früh erwachsen werden musste.
Bruderliebe im Belastungstest
„Ich habe ihn oft gehasst“, sagt Jonas, fuhr durch seine gescheitelten blonden Haare und lächelt. Unter seinen Augen formen sich Fältchen. „Ein böser und schrecklicher Kerl, der alles kaputt gemacht hat, woran mir etwas lag.“ David schraubte sein Keyboard auf, durchtrennte die Kabel und baute es dann sorgfältig wieder zusammen. Er steckte seinen Legoturm in Brand, überspielte Jonas’ selbst aufgenommene Hörspiele mit bizarren Geräuschen, löschte sie ganz oder schmierte mit Buntstiften in den selbst gezeichneten Comics seines Bruders herum. Schläge hätten nicht geholfen. „Er ist wie ein eingemauerter Stein, über den man stolpert. Dafür, dass man über ihn stolpert, kann dieser Stein nichts. Genauso trifft David keine Schuld für sein Verhalten.“ Doch sofort wirft Jonas seinem eigenen Gedanken eine Frage hinterher: Empfindet sein Bruder wirklich keine Schadenfreude dabei, wenn er anderen schadet? Oder ist es mehr ein Versuch, eine Reaktion zu erfahren? Er sieht schräg nach oben, zieht die Augenbrauen zusammen und zuckt die Achseln. Er ist sein Bruder.
„Seine Krankheit hat mich geformt“
„David war für mich eine gute Schule, er hat mich sozialer gemacht und ich habe gelernt, Besitz nicht mehr so wichtig zu nehmen.“
In einer Brüderbeziehung ohne Autismus hätte Jonas seinen Bruder wohl dafür verdroschen oder ihn zumindest angeschrien. Mit sechs Jahren Altersunterschied wäre David auch klar unterlegen gewesen. Doch dazu kam es nie. Denn sie sind nicht wie andere Brüder. „Er kann ja nicht aus seiner Haut. Und er interessiert sich nur für sich.“ David ist kein Egoist, sagt Jonas, er sei einfach nur nicht sozial.
Manchmal hilft er Jonas, wenn der Schwierigkeiten mit seinem Computer hat. Das ist Davids Inselbegabung, wie sie jeder Autist hat. Eine Sache, in der er dem gesunden Menschen voraus ist. „Er hilft mir. Aber hat er nicht auch etwas davon? Tut er das nicht auch wieder nur für sich, weil er sich für die Technik an sich interessiert? Ich weiß es nicht.“ Er verschränkt die Arme vor der Brust. Keine Diskussionen, kein verbaler Schlagabtausch, Jonas gab seinem jüngeren Bruder nie Ratschläge bei Liebeskummer, David fragte nie, wie es sei, verliebt zu sein. Nach einem Streit gab es keine Aussprache, kein versöhnliches Wort oder eine kurze Umarmung. Alltägliche Situationen zwischen Brüdern hat Jonas mit David nie erlebt. David lässt sich nicht gern anfassen. Ein Klaps auf die Schulter ist das Maximum.
Ein kurzer Blick hinter die Tür
David weiß, dass er anders ist. „Warum bin ich so wie ich bin?“ Jonas wiederholt die Frage, die sein Bruder ihm ein einziges Mal gestellt hat. Da hätte Jonas gerne mehr von dem erfahren, was David hinter der Tür zu seiner Welt verschlossen hält. „Ich bin froh, dass du bist wie du bist.“ Die Antwort hat David gehört. Reagiert hat er darauf nicht. Und er hat nie wieder danach gefragt. Wenn sie miteinander reden, stellt Jonas die Fragen, David antwortet. Oder auch nicht. Jonas hebt die Arme, verschränkt sie hinter dem Kopf und lehnt sich in seinen Stuhl zurück. „Man muss einen guten Tag erwischen. Zwingen kann man ihn zu gar nichts.“ Für einen Moment sieht er aus dem Fenster. Es regnet.
Das Leben ist nicht nur schwarz und weiß, auch nicht immer bunt. Es hat immer zwei Seiten, von denen man es betrachten kann. „Alles wird intensiver, wenn man mit einem Autisten in der Familie gesegnet ist.“ Und wieder die Fältchen unter Jonas’ Augen. „Ein normales Gespräch mit einem anderen Menschen ist etwas Besonderes.“ Jonas lässt sich Zeit beim Sprechen, er nimmt sie sich, um die richtigen Worte zu finden. Er liebt das Subtile.
In Jonas Welt
Wie David hat auch er einen Ort, an dem er sich in sich zurückziehen kann. Jeder Mensch hat diesen Ort. Sei es die Musik, das Malen, Autofahren, die Literatur, der Sport oder die eigene Arbeit. Der Unterschied zwischen Autisten und gesunden Menschen ist nur, dass sie diesen Ort jederzeit wieder verlassen können. David muss dort bleiben. Aber oft sind David und Jonas am selben Ort. In Jonas Atelier beobachtet David seinen großen Bruder, fotografiert ihn und ist bei ihm.
Wenn David dann wieder fort ist, verliert sich Jonas in seiner Arbeit, seinen Puppen, den lebensechten Wachsfiguren, den Masken und Kulissen, Cartoons und Comics. Seit 13 Jahren ist er selbstständiger Skulpteur und Bildhauer. Er lebt sein eigenes Leben. Trotz und vielleicht gerade wegen David.
Sein Bruder war sein Antrieb. Zum einen, weil Jonas seine Eltern mit seinen Werken beeindrucken wollte, zum anderen, weil er merkte, dass er David durch seine Kunst helfen konnte. „Es ist ein extrem schwieriger Prozess, jemanden wie David aus der Reserve zu locken. Das hat mich angespornt, besser zu werden.“ Immer wieder dachte er sich neue Geschichten aus, die sie miteinander erleben könnten, nahm sie als Hörspiel auf Kassette auf und spielte sie David vor. Für eine Alien-Folge durfte der kleine Bruder selber einsprechen. Den Puppen, die Jonas baute, konnte David sich anvertrauen. Ihnen erzählte er Geschichten, die sonst niemand aus der Familie hörte. „Seine Andersartigkeit ist für mich oft ein Thema, mit dem ich mich in meiner Arbeit auseinander setze. Anders zu sein ist nicht immer etwas Schlechtes. Es kann erfrischend ehrlich sein.“
Er flüchtet, wie sein Bruder, vor der ständigen Reizüberflutung in seine „andere Welt der Sinne“. In die Arbeit, bei der der Ton unter seinen Fingernägeln klebt, Staub in seiner Nase juckt, wo er den trockenen Geschmack von Styroporkügelchen auf der Zungenspitze schmeckt und das Knirschen von Schmirgelpapier auf Holz hört. Dann übernehmen seine Hände die Kontrolle, nicht sein Gehirn. „Was ist denn schon normal?“ Die Frage stellt er sich oft. „Vielleicht bin ich ja nicht normal und er ist es.“ Er zieht die Augenbrauen hoch und grinst.
*Die Namen wurden auf Wunsch geändert
Nathalie Sofie Beier