Was richtig, wichtig, moralisch und legitim ist vermitteln Medien heute schon den Kleinsten unter uns. Paradebeispiel dafür ist die Kinderhörspielserie Benjamin Blümchen, in der sich der sprechende Elefant kompromisslos für die Belange der Neustädter einsetzt und für soziale Gerechtigkeit kämpft. Das ist auch 40 Jahre nach der Erfindung der Figur noch so – oder nicht?
Teil 1 – Lebendige Demokratie, politischer Idealismus und Emanzipation
Haustür auf, Schulranzen in die Ecke, Treppe hoch. Kinderzimmer.
Tür zu, rauf auf’s Bett, Kassette an.
So ging das jeden Tag – inklusive Kampf mit Mama, ob ich parallel zu den Hausaufgaben Kassette hören durfte. Meist durfte ich. Wenn nicht, reizte ich meinen Hörspielkonsum – vornehmlich charakterisiert durch lautes „Törööö“ und „Hexhex“ – einfach im Anschluss bis zum Letzten aus. Beim Aufräumen, beim Malen, beim Spielen und selbstverständlich zum Einschlafen. Und das stets so lange, bis das laute Klack-Geräusch des Recorders einsetzte und mich dazu anhielt, die Kassette um 180 Grad zu drehen und noch einmal zu hören.
Das Besondere daran: Beim Kassette-Hören war ich allein und selbstbestimmt. Während Mama und Papa mir alltäglich meine Lieblingsbücher vorlasen und so über den Inhalt zumindest mitbestimmten, der Fernseher eh weitestgehend ausgeschaltet blieb und die Entscheidungsgewalt beim Radiohören stets bei ihnen lag, störte mich beim Kassette-Hören keiner der Erwachsenen. Ich durfte darüber entscheiden, was ich hörte, wie laut ich hörte und vor allem: Wie oft ich hörte. Und ich hörte ständig, in Dauerschleife, bis ich alle Folgen mitsprechen konnte.
Meine Lieblingsfigur war Benjamin Blümchen. Der sprechende Elefant aus dem Neustädter Zoo, der meist mit seinem kleinen Freund Otto und der rasenden Reporterin Karla Kolumna gemeinsame Sache machte und gegen die Machenschaften der Bösewichte aus Politik und Wirtschaft kämpfte, gefiel mir. Und nicht nur mir, die Serie prägte in den 1980- und 1990er-Jahren eine ganze Generation von Kassettenkindern und gehört mit ihren mittlerweile 135 Episoden auch heute noch zu den beliebtesten Reihen auf dem Hörspielmarkt. Es verwundert daher nicht, dass sich auch Journalist_Innen und Wissenschaftler_Innen mit der Serie befassen. Denn nicht zuletzt sticht die Serie durch besondere Präsenz politischer Themen aus der Masse der Hörspielangebote heraus. Einig sind sich dabei alle: Benjamin Blümchen vertritt politische Werte links der Mitte, verhält sich durchweg antiautoritär, verweist auf ein basisdemokratisches Politikverständnis und kann als Vertreter von Minderheiten gelesen werden. Er setzt sich für die Schwächeren ein, stellt kindgerecht soziale Ausgrenzung dar und prangert sie an, steht für eine lebendige Demokratie mit hoher Bürger_Innenbeteiligung und verfügt über einen ausgeprägten Idealismus. Doch während Forscher_Innen, Redakteur_Innen und erwachsene Benjamin-Blümchen-Fans in Nostalgie schwelgen und auch noch 40 Jahre nach der Erfindung der Figur an diesem Bild des politischen Kinderhelden festhalten, hat sich die Serie längst gewandelt.
Die Serie Benjamin Blümchen ist nicht mehr was sie mal war
Das einstige Medium Kassette ist in den 1990er-Jahren erst den CDs und später den Streaming-Portalen gewichen. Die Sprecher_Innen haben altersbedingt gewechselt, sodass nur noch der kleine Freund Otto, sowie der väterliche Wärter Karl von den Originalstimmen eingesprochen werden und die Stammbesetzung hat mit Ottos neuer Freundin Stella personellen Zuwachs gewonnen. Was als Kind mein Traum gewesen wäre, ist heute konsumierbare Wirklichkeit – ein omnipräsenter Benjamin. Ihn gibt es neben den Hörspielen auch in Form von Trick- und Spielfilmen, Comics, Kochbüchern, Liedersammlungen und sogar als Musical. Man kann Benjamin Blümchen als T-Shirt und Unterhemd tragen, sich in seine Bettwäsche einwickeln oder ihn in Form einer Geburtstagstorte vernaschen – kurzum: Die kommerzielle Ausschlachtung der Figur Benjamin Blümchen hat erfolgreich sämtliche Bereiche für sich einnehmen können.
Aber auch hinter den Kulissen hat sich eine Menge getan. Die Erfinderin von Benjamin Blümchen, die ebenfalls die Hörspielserie Bibi Blocksberg in den frühen 1980er-Jahren ins Leben rief, verkaufte die Rechte beider Reihen schon 1987 an den Verlag. Seither haben verschiedenste Autor_Innen die Geschichten weiter- und neu erzählt, aktuell ist der Autor Vincent Andreas für die Episoden verantwortlich. Auch die Altersempfehlung von Benjamin Blümchen wurde in den vergangenen Jahren von sechs auf drei Jahre deutlich herabgesetzt und soll heute schon die Jüngsten unter uns medial bespaßen. Und das macht sich auch inhaltlich bemerkbar. Nicht nur die Themen der einzelnen Folgen sind in den vergangenen drei Jahrzehnten immer unpolitischer geworden, die Figuren selbst sind es auch.
Von egozentrischen Wirtschaftsvertretern, obrigkeitshörigen Polizisten und bürgerfernen Politiker_Innen
Es ist kein Geheimnis, dass die Erfinderin des sprechenden Elefanten Benjamin Blümchens ganz bewusst politische Themen in die Hörspielfolgen einbettete und eine Kinderwelt samt lebendiger Demokratie zeichnete. Deutlich wird dies beispielsweise an den Darstellungen ökonomischer Stellvertreterfiguren. Immer wieder begegnet Benjamin in seinen Geschichten Figuren aus der Wirtschaft, die skrupellos ihre eigenen Interessen verfolgen und dabei das Leid ihrer Mitmenschen rücksichtslos in Kauf nehmen. So nutzt beispielsweise der Immobilienbesitzer Herr Schmeichler die Naivität Benjamins schamlos aus, als er ihm ein kleines und völlig überteuertes Zwei-Zimmer-Appartement andreht und von Benjamins Sparbuch als „ersten Schritt zur Menschwerdung“ spricht. Wenige Folgen später verkauft er sogar dem in Not geratenen Zoo eine Klima-Killer-Heizung, die dieser gar nicht benutzen darf und plötzlich nicht nur mit zitternden Zoo-Tieren konfrontiert, sondern auch von finanziellen Sorgen bedroht ist. Auch andere Figuren, wie Bankdirektor Klingelsack, Tierfutterhändler Rudi Raffke und Unternehmer Ulrich Umsatz – die Namen sind Programm – zielen anfänglich nur darauf ab ihre eigenen Taschen zu füllen (die ja eh schon ziemlich prall gefüllt sind) und bedienen sich dabei verschiedenster Tricks und Manipulationstechniken. Benjamin – stets auf der Seite des Guten – macht sich diese Ungerechtigkeit jedes Mal zu eigen. Er appelliert an die Vernunft, protestiert lauthals oder bringt konstruktive Gegenvorschläge gegen die geplanten Vorhaben vor, die schlussendlich alle – auch die Wirtschaftsvertreter selbst – überzeugen. Und nicht nur das, die egozentrischen Unternehmer geloben zum Ende jeder Folge sogar Besserung und vermitteln damit ihren jungen Zuhörer_Innen, dass sich Menschen sowohl ihre Haltungen sehr wohl ändern können. Nicht zuletzt durch das Aberkennen ihrer Autorität zeigt der sprechende Elefant deutlich, dass Gegenwehr und antiautoritäres Verhalten schlussendlich auch als politisches Mittel eingesetzt werden kann und sogar zum Erfolg führt. Dass sich dabei häufig die gesamte Neustädter Bevölkerung zusammenschließt und sich gegen die nach Gewinnmaximierung strebenden Bösewichte erhebt, zeigt den kleinen Zuhörer_Innen auch, wie stark Gemeinschaft macht und dass sich blinder Gehorsam schlichtweg nicht lohnt.
Den blinden Gehorsam und das uneingeschränkte Pflichtbewusstsein thematisiert Donnelly besonders deutlich anhand der zahlreichen Polizei-Figuren. Wenn Benjamin Bäume besetzt, Straßen blockiert oder eine Demonstration gegen die Rodung des Stadtwaldes organisiert, trifft er in den alten Folgen regelmäßig auf Staatsdiener, die ihn für seine kriminalisierten Taten zur Rechenschaft ziehen wollen. Die ausschließlich als Erfüllungsgehilfen der politischen Akteur_Innen agierenden Polizisten sind dabei durchweg von ihrer Funktion und Wichtigkeit überzeugt, die sich vornehmlich über ihre Uniform ausdrückt. Zeitgleich scheinen sie mit Benjamins politischen Aktionen und seinem Ungehorsam jedes Mal regelrecht überfordert zu sein. Obrigkeitshörig bemühen sie sich ihre von oben indoktrinierte Pflicht mit allen Mitteln durchzusetzen und schrecken dabei auch nicht vor Gewalt zurück, wenn sie Benjamin beispielsweise mit einem Kran von der blockierten Straße zu entfernen versuchen. Mit ihrem Verhalten machen sie sich meist selber lächerlich und treiben dies sogar noch auf die Spitze, wenn sie dazu angehalten werden ihr Agieren zu reflektieren und nur hörig antworten: „Aber das habe ich auf der Polizeischule gelernt“. Benjamin steht der Polizei und ihrem unreflektierten Gehorsam also offenkundig kritisch gegenüber und beugt sich mit keinster Faser seines großen Elefantenkörpers der Staatsgewalt. Vielmehr sorgt er regelmäßig für kindliches Gekicher vor den Kassettenrecordern, wenn er beispielsweise den Kontaktbereichsbeamten für seinen Beruf bedauert und zu diesem sagt: „Machen Sie sich nichts draus, es muss auch solche Berufe geben.“
Bedauernswert scheinen aber auch die Politiker_Innen in der fiktiven Kleinstadt Benjamins zu sein, die unter Donnelly in unterschiedlichen Funktionen, wie der Bildungssenatorin, der Jugendsenatorin, diversen Stadträten und dem Stadtoberhaupt selbst dargestellt werden. Gezeichnet als bevölkerungsfern beschließen sie – abgeschottet und intransparent – die absurdesten Pläne. Wie zum Beispiel den Bau einer Schnellstraße, damit der Bürgermeister schneller bei seiner Großtante sein kann oder sie machen sich für die Schließung sozialer Einrichtung stark, wie die des stadteigenen Kindergartens. Erst durch den Protest Benjamins und der Neustädter Zivilgesellschaft, lässt sich die politische Elite dazu bewegen umzuschwenken. Sinnvolle Vorschläge bringt sie aber dennoch nur selten hervor, auf die Belange der Bevölkerung geht sie nur unzureichend ein und argumentiert bei Gegenvorschlägen dieser stets mit Sachzwängen und Geldnöten. Die Botschaft ist klar, die Parallelen zu realen Politiker_Innen ebenfalls.
Benjamin Blümchen – ein politischer Aktivist
Dass sich Benjamin, bestückt mit einem unbeugsamen Gerechtigkeitssinn und politischem Idealismus, für die Belange der Neustädter einsetzt, zieht sich unter Donnelly durch nahezu alle Folgen. Er besetzt Jahrhunderte-alte Bäume, die einer neuen Autobahn zum Opfer fallen sollen, gründet eine freie Schule ohne Leistungsdruck und Notenkampf, rettet die Tiere des Neustädter Forst, in dem er mit ihnen gemeinsame Sache macht und die Rodung des Waldes verhindert oder spendet seinen gesamten Lottogewinn einer unkonventionellen Kindereinrichtung, an der es Neustadt grundsätzlich mangelt. Dabei richtet er seine Interessen stets am Gemeinwohl aller Neustädter aus und schreckt im Kampf für soziale Gerechtigkeit auch nicht vor vermeintlichen Autoritäten aus Politik und Wirtschaft zurück. Benjamin ist also ein politischer Kinderheld, der spielerisch und kindgerecht vermittelt, was richtig, wichtig und moralisch ist. Nur wenig bringt ihn dabei wirklich aus der Ruhe, sein Handeln bleibt – trotz seiner Kompromisslosigkeit und Bestimmtheit – stets friedvoll.
Und wie ist es heute, 40 Jahre nach Produktionsbeginn um die beliebte Kinderhörspielserie bestellt?
Fortsetzung folgt …
Hinweis: Diesem Artikel liegt die Bachelorarbeit „Vom Baumbesetzer zum Staatsdiener? Wandel politischer Werte in Kinderhörspielserien am Beispiel von Benjamin Blümchen“ zugrunde, in der unsere Redakteurin die Darstellung politischer, staatlicher und wirtschaftlicher Repräsentationsfiguren der alten Folgen mit denen der neuen Folgen entlang politischer Werte untersucht hat.
Änni Siebert
Foto: KROSSE