Zu Beginn der Weltmeisterschaft in Katar sind die Kontroversen allgegenwärtig. Warum diese WM der Schande jedoch auch eine Chance bietet und wie die Spieler dafür sorgen können – ein Kommentar
Nach zwölf Jahren der Diskussion ist es so weit: Die Weihnachtsweltmeisterschaft in Katar steht vor der Tür. Dass dieses Turnier von Vergabe über Planung bis zur Austragung eine Farce ist und sein wird, ist allen klar. Nur stellt sich die Frage: Wer sollte eigentlich protestieren? Für Jürgen Klopp, Startrainer des FC Liverpool, ist die Sache offensichtlich. Als er kürzlich in einer Pressekonferenz zu dem möglichen Boykott oder Protest seiner Spieler befragt wurde, beschuldigte er vor allem die mediale Öffentlichkeit, sie habe ihren Unmut nicht laut genug kundgetan und wies jede Verantwortung der Spieler ab. Doch: Ist diese Haltung noch zeitgemäß? Und: Stimmt der moderne Fußballer überhaupt mit dieser Verantwortungslosigkeit überein?
Stummer Protest trotz großer Gefahr
Konträr zu den korrupten Machenschaften der FIFA und der alltäglichen “Sportswashing”-Skandale des Weltfußballs bildet sich ein neues Bild des Fußballprofis heraus. Klopp selbst müsste das eigentlich am besten wissen, denn mit Sadio Mané hatte er selbst jahrelang einen großen Philanthropen im Team. Der Senegalese errichtete bereits ein Krankenhaus und eine Schule in seinem Heimatdorf. Nur wenige Kilometer weiter, in Manchester, setzt sich Marcus Rashford, Spieler von Manchester United und Sohn einer alleinerziehenden Mutter, seit Jahren für die kostenlose Verpflegung von Schulkindern ein.
Ein weiteres aktuelles Beispiel ist die Hinwegsetzung der iranischen Nationalmannschaft bei der WM in Katar über ihren Verband, um die Proteste in ihrer Heimat zu unterstützen. Auch die weitreichenden Solidaritätsaktionen gegen Polizeigewalt und Rassismus im Rahmen der Black Lives Matter-Bewegung zeugen von der politisch-gesellschaftlichen Verstrickung des Sports. Ist Klopps Vorstoß, obwohl sicherlich zum Wohle der Spieler gemeint, dann nicht blind gegenüber dem Wunsch der Spieler, Verantwortung zu übernehmen?
‘Die Mannschaft’ versteckt sich
Sicher, die Profis selbst trifft keine Schuld für die Ausrichtung der WM in Katar in dieser abstoßenden Form. Und bei allem Zynismus gegenüber der Fußballindustrie ist eine WM-Teilnahme das größte Privileg, das einem Berufsfußballer zuteilwerden kann. Dies aufgrund der (mal wieder) kriminellen Machenschaften der FIFA aufzugeben, wäre reichlich viel verlangt.
Nur sind in die Nationalmannschaft berufene Fußballer eben, ob sie wollen oder nicht, Repräsentanten ihres Landes. Sich dann wie Joshua Kimmich, Profi des FC Bayern und Nationalmannschaftskapitänsanwärter, hinter der Aussage: “Ja, jetzt ist es ja eh zu spät” zu verstecken, wird dieser Verantwortung nicht gerecht. Zumal sich die Spieler bei dieser WM in einer einzigartigen Position des Protests befinden. Denn wenige Gruppen erreichen bei einer ähnlichen Unangreifbarkeit eine vergleichbare Medienwirksamkeit.
One-Love wegen Sanktionen eingestellt
Sollte das katarische Regime bei Protesten gegen einzelne Spieler vorgehen und sie beispielsweise vom Spielbetrieb sperren, würde das postwendend einen gigantischen Legitimationsverlust des gesamten Turniers zur Folge haben. Das merken so langsam auch die Spieler selbst. Einen zahmen aber löblichen Vorstoß wagten bereits einige europäische Nationalteams indem sie die “One-Love”-Kapitänsbinde tragen wollten: Eine abgewandelte LGBTQ-Flagge, die die Gleichwertigkeit aller Formen der Liebe symbolisieren soll. Dass dieses verhaltene Statement unter der Androhung von sportlichen Sanktionen vonseiten der FIFA in sich zusammenfiel, ist bedauernswert, peinlich und leider kein Einzelfall. Schon bei der EM 2021 war die Nationalelf vor der LGBTQ-Feindlichkeit Ungarns und der UEFA eingeknickt. Das abgewandelte Design der WM-Binde hätte auch ohne Verbot einen Schlag ins Gesicht der LGBTQ-Community dargestellt. Die Kontroverse macht jedoch deutlich, dass die FIFA auch nicht davor zurückschreckt, Regeln zu erfinden, um es ihren Geldgebern gefällig zu machen. Die vertane Chance, die Tür zu weiteren Protesten aufzustoßen, ist hierbei die größte Schande.
Ebenso ist es gut zu beobachten, wie aus dem PR-Rumgedruckse á la “wir wissen um die Probleme, aber die WM in Katar wird trotzdem toll!” konkrete Kritik wurde. So positionierte sich Bruno Fernandes, portugiesischer Nationalspieler, deutlich gegen die strukturelle Diskriminierung in Katar und übte Kritik an den Arbeitsbedingungen der Gastarbeiter, ein Standpunkt, dem sich in den letzten Tagen und Wochen einige namhafte Spieler angeschlossen haben. Ein Statement dieser Art sollte respektiert und gelobt werden, denn nur ein Schulterschluss zwischen Fans und Spielern hat das Potenzial gegen das korrupte System der FIFA zu bestehen.
Kommt die Moral zurück in den Fußball?
Heißt das nun, dass alle Verantwortung – entgegen Klopps Meinung – auf den Spielern lastet? Nicht unbedingt, denn auch medial muss dafür gesorgt werden, dass die Missstände in Katar schonungslos aufgedeckt werden. Ein unkritischer Konsum der WM darf nicht ermöglicht werden. Gleichwohl muss sich jeder Spieler seiner Macht bewusst werden. Ein Wegducken ist bei der WM in Katar die verpasste Chance, etwas zu verändern – und stillschweigende Akzeptanz dieser korrupten und menschenverachtenden Systeme.
Diese Weltmeisterschaft ist der vorläufige Tiefpunkt in einer den Fußball immer tiefer durchdringenden Kommerzialisierung – auf Kosten haufenweiser moralischer Grundwerte. Doch gleichzeitig könnte sich auch aufgrund der ekelhaften Äußerungen der katarischen Offiziellen eine Dynamik des “Genug-Habens” entwickeln, wie man sie letztes Jahr bei der Super League beobachten konnte. Die Fans und Spieler sind nicht mehr unpolitisch – während der Fußball am Scheideweg steht, müssen alle Beteiligten nun entscheiden, wo sie ihre Grenze ziehen.
Von Jost Möller