In Bernadine Evaristos Roman „Mr. Loverman“ aus dem Jahr 2013, das nun endlich auch auf Deutsch erschienen ist, ist die Frage nach gesellschaftlicher Akzeptanz genauso prägend wie die Frage nach dem eigenen Glück – dem man vielleicht selbst im Weg steht, wenn man nicht den Mut hat, für sich einzustehen.
Barry und Carmel: ein Ehepaar, das in den 2010er Jahren in London lebt und ursprünglich aus der Karibik stammt, scheint nach außen hin ein perfektes Leben zu führen. Die beiden Töchter, Maxine und Donna, sind aus dem Haus und um ihre Rente steht es, dank der Immobiliengeschäfte von Barry, auch nicht schlecht. Trotzdem sind beide unglücklich in ihrer Ehe. Allen voran Barry, der eigentlich mit seinem besten Freund Morris, für den er seit jeher starke Gefühle hat, zusammenleben möchte. Und auch Carmel fragt sich langsam, wieso der Pastor der Gemeinde der Meinung ist: „Eine Ehe ist für immer, und für immer kennt kein Ende, es ist un-endlich“.
Ein vielversprechendes Leben
Als Barry und Carmel geheiratet haben, waren beide noch sehr jung. Er, ein äußerst gutaussehender Gentleman und sie, ein aufgewecktes Mädchen, das es kaum erwarten konnte, Ehefrau zu werden. In den 60er-Jahren verließen die beiden St. Johns und ihre Heimat Antigua und zogen nach London. Dort leben sie nun seit einem halben Jahrhundert – ähnlich lang, wie sie auch bereits verheiratet sind.
Direkt zu Beginn des Romans wird klar, dass die Ehe zwischen Barry und seiner sehr gläubigen Ehefrau nicht gerettet werden kann. Er wünscht sich, mit seiner großen Liebe Morris zusammen zu sein, traut sich dies allerdings, außer vor Morris, aufgrund der gesellschaftlichen Konventionen, nicht traut laut auszusprechen. Erst als Carmel mal wieder in die Heimat fliegt, um der Beerdigung ihres gewalttätigen Vaters beizuwohnen, passieren einige Dinge, die dafür sorgen, dass sich Barry endgültig entscheiden muss, ob er für das Leben einstehen kann, das er eigentlich führen will.
Der Schein trügt
Der Ich-Erzähler Barry geht stets in Anzug und Hut im Stile der 50er-Jahre aus dem Haus, trinkt gerne mal einen über den Durst und strotzt nur so vor Selbstbewusstsein. Abends kommt er gelegentlich spät oder auch gar nicht nach Hause. Dies veranlasst seine Frau zu dem Denken, er würde sie mit etlichen Frauen betrügen. Zudem vertritt Barry, sei es dem Alter, der Erziehung oder seiner Herkunft geschuldet, ein heutzutage sehr veraltetes, sexistisches und (ironischerweise) auch homophobes Weltbild. Durch verschiedene Situationen, in welche die Autorin den Protagonisten immer wieder wirft, wird den Lesenden klar, dass Barry in das sehr weltoffene und tolerante London der 2010er-Jahre, nicht wirklich hineinzupassen scheint. So muss er nach und nach merken, dass sich die Welt in den letzten 50 Jahren nicht nur um ihn gedreht hat, sondern dass es mittlerweile auch eine LGBTQIA + Bewegung gibt, die sich für die Rechte von lesbischen, schwulen/gay, bisexuellen, transsexuellen, queeren, intersexuellen, asexuellen und allen Personen, die sich noch als etwas anderes (+) identifizieren, einsetzt. Dennoch ist einem der Protagonist auf eine gewisse Art sympathisch, denn nicht alle Ansichten, die er vertritt, sind grundsätzlich abzulehnen. So sympathisiert der Leser beispielsweise mit Barry, weil er seinen Schwiegervater aufgrund der Tatsache, dass dieser seine Frau schlägt, schon immer für ein „Schwein“ hält. Indem die Autorin ihren Figuren solche spezifischen Charakterzüge gibt, macht sie auf bestimmte Probleme aufmerksam und veranschaulicht so die Vielfältigkeit dieser: Hier kritisiert sie durch die Meinung des Protagonisten beispielsweise häusliche Gewalt.
Auch von seiner Ehefrau bekommen die Leser:innen von Zeit zu Zeit in Form von „Gedankenströmen“ Rückblenden aus ihrem Leben seit den 60er-Jahren bis in die Gegenwart. Es wird darauf aufmerksam gemacht, dass alle Frauen sehr individuell sind und sie nicht in die tradierten Rollenbilder gesteckt werden sollte. Das Bild der kochenden, regelmäßig in die Kirche gehenden und somit „perfekten“ Ehefrau, bröckelt spätestens in den Momenten, in denen die Autorin Carmel auch emotional und nahbar erscheinen lässt oder sie die ein oder andere „Sünde“ begeht. Dies ist für die Lesenden sehr erfrischend, denn es nimmt ein wenig den Druck, welchen besonders weiblich gelesene Personen durch die Gesellschaft oft verspüren.
Auch durch die Nebencharaktere macht Evaristo im Verlauf des Buches auf Konflikte aufmerksam, die meist nur im Privaten thematisiert werden, wodurch die Charaktere für die Lesenden sehr nahbar sind. Tochter Donna leidet nach Jahren immer noch daran, dass der Vater ihres Sohnes Daniel sie verließ und möchte ihren Sohn vor der, ihrer Meinung nach, gefährlichen Welt beschützen, sodass sie wenigsten über den anderen Mann in ihrem Leben noch die Kontrolle. Auch ihre jüngere Schwester Maxine scheint nicht so richtig angekommen zu sein. Sie will den Traum vom Modedesign, der „natürlich“ nur daran scheitert, dass die Welt ihr Talent noch nicht erkannt hat, nicht aufgeben. Das Problem ist, dass sie mit über 40 Jahren finanziell immer noch abhängig von ihrem Vater ist. Aufgrund der postnatalen Depression seiner Frau nach Maxines Geburt, kümmerte er sich seither umso mehr um sie, sodass sie nun ein wenig verwöhnt und ein falsches Selbstbild zu besitzen scheint.
Auch nach einer Dekade noch dem Zeitgeist entsprechend
Bernadine Evaristo erweckt ihre Hauptfiguren mit viel Witz und Charme zum Leben und lässt die Lesenden die Gedanken und Gefühle dieser gut nachfühlen. Gleichzeitig bemerkt ein waches Auge aber auch, wie sie auf gesellschaftliche Probleme aufmerksam macht, die auch noch zehn Jahre später den Kern der Zeit treffen.
Mit einem Barry als Hauptcharakter, der sich „barrysexuell“ nennt, weil er es nicht über die Lippen bekommt, sich selbst als homosexuell zu bezeichnen, zeigt Bernadine Evaristo, wie wenig angekommen queere Identitäten und Homosexualität in unserer Gesellschaft auch heute noch sind, denn auch im Jahre 2023 gibt es immer noch viel Hass und Vorurteile gegen diese Menschen unserer Bevölkerung. Auch die völlig inkorrekten und verletzenden Schimpfwörter, die die Autorin ihren Protagonisten benutzen lässt, hört man leider auch heutzutage immer wieder. Diese Negativität gegenüber dem Thema der Homosexualität bekommt Barry auch von seiner Ehefrau und ihren Freundinnen aufgrund ihres Glaubens stetig widergespiegelt, sodass er sich, wie aber auch viele andere queere Personen nicht richtig fühlt, wie er ist. Das macht es ihm nicht leichter sich zu outen, wo er doch selbst Angst verspürt, dass sich nach einem Outing (der Begriff war ihm vorher auch noch fremd) alles ändern würde. Mit diesem Gedanken an Veränderung zeigt Bernadine Evaristo die innere Zerrissenheit, welche den Protagonisten immer wieder belastet, wenn er über ein Outing nachdenkt. Zudem schlägt die Autorin hier den Bogen zu allen Personen, die in einer ähnlichen Lage sind und gibt ihnen das Gefühl, nicht allein zu sein.
Zugleich zeigt die Autorin mit Barry und seinen Töchtern einen gewissen Generationenkonflikt auf, der sich auch in unserer Gesellschaft wiederfindet. Seine Töchter als sehr feministisch eingestellte Frauen, stehen Barry, der sehr traditionell aufwuchs, gegenüber und weisen ihn immer wieder darauf hin, dass seine Ausdrucksweisen und Gedanken nicht mehr zeitgemäß sind und sich bereits vieles verändert hat.
Bernadine Evaristo schreibt in ihrem Roman sehr lebendig und nachvollziehbar über realistische Probleme, die vermutlich viele Menschen nachvollziehen können. Mit Leichtigkeit weist sie so auf Schwierigkeiten spezifischer Minderheiten hin, die ebenfalls von Intersektionalität, also der Mehrfachdiskriminierung durch verschiedene Kategorien, betroffen sind. Nun bleibt es den Lesenden selbst überlassen, herauszufinden, ob sich Barry am Ende des Buches outet oder er sich schließlich doch nicht traut.
Von Sinja Konduschek
“Mr. Loverman” von Bernardine Evaristo ist als gebundene Ausgabe für 25€ erhältlich.