Im Rahmen der Türkeiwoche fand im Kommunalkino City 46 eine Filmvorführung statt. Es handelte sich um die Dokumentation Gözdağı des türkischen Journalisten Can Dündar über die sogenannten Gezi-Proteste in der Türkei. Anschließend gab es eine Diskussionsrunde mit dem Regisseur, bei der viele offene Fragen beantwortet wurden. Auch KROSSE war vor Ort.
Die Türkeiwoche 2014
Die diesjährige Türkeiwoche in Bremen fand im Rahmen des Deutsch-Türkischen-Wissenschaftsjahres statt. Vom 10. bis 16. November gab es ein vielfältiges Programm, das von der Universität Bremen in Kooperation mit der Hochschule Bremen veranstaltet und koordiniert wurde. Viele Persönlichkeiten aus den Bereichen der Wissenschaft, Forschung und Politik wurden eingeladen, um an Podiumsdiskussionen teilzunehmen, Workshops zu leiten und vieles mehr. So war auch Can Dündar in Bremen und stellte seine Dokumentation Gözdağı vor.
Der Gezi-Park
Gözdağı ist eine Dokumentation, die versucht, die ersten 48 Stunden der Gezi-Proteste im letzten Jahr zu rekonstruieren. Ausgangspunkt für die politischen Unruhen war der – den Protesten ihren Namen gebende – Gezi-Park. Letztes Jahr wurde von der Regierung beschlossen, das letzte bisschen Grün inmitten des zentralen Istanbuler Viertels Taksim zu vernichten. Die Bäume sollten Platz schaffen, um den Wiederaufbau einer Kaserne sowie den damit verbundenen Bau eines teuren Komplexes aus Luxuswohnungen und einem Einkaufszentrum zu ermöglichen. Dies sorgte für eine ungeahnte Welle von Protesten, die von der Regierung mit Gewalt niedergeschlagen wurde. Während seitens der Demonstranten anfangs alles friedlich begann, eskalierte kurz darauf die Situation durch die Gewaltbereitschaft der Polizei -und zwar auf Anordnung des damaligen Ministerpräsidenten und heutigen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan.
Und das alles nur wegen ein paar Bäumen?
Zunächst fanden sich die Menschen am 28. Mai 2013 im Gezi-Park ein, um lediglich gegen die Abholzung zu protestieren. Der Gezi-Park wurde von einer großen Gruppe von Menschen eingenommen, um so gegen entsprechende Maßnahmen vorzugehen. In dem Park wurde gecampt und auch nachts Wache gehalten – in Begleitung von Musik und Tänzen. Doch die harmonische Stimmung wurde schlagartig beendet, als am 31. Mai 2013 die Polizei die Masse mit Tränengas, Gummigeschossen und Wasserwerfern auseinander trieb. Insgesamt wurden bei den Protesten der gesamten Gezi-Bewegung Tausende verletzt und einige verloren sogar ihr Leben bei dem Versuch, Widerstand zu leisten.
Doch es ging um viel mehr, als „nur“ um die Abholzung der Bäume im Gezi-Park. Dies war lediglich eine Art Auslöser, um gegen die jahrelange konservative AKP-Regierung, der Korruption vorgeworfen wird, vorzugehen. Es ging um die Einschränkung der Meinungs- sowie Pressefreiheit; es ging um die Menschenrechte, die doch in einem Land, das sich demokratisch nennt, so selbstverständlich sein sollten. Die Menschen fühlten sich einfach ihrer Freiheit beraubt und nutzten ihr Recht, um ihren Unzufriedenheiten eine Stimme zu geben und gegen diese Missstände zu protestieren. Die anfänglichen Proteste in Istanbul bilden hier die Ausgangssituation für eine der wichtigsten Bewegungen in der Türkei. Auch die Proteste in anderen Städten der Türkei sowie jene in diesem Jahr werden zu der Gezi-Bewegung gezählt und haben alle einen gemeinsamen symbolischen Gesamtwert – und zwar den des zivilgesellschaftlichen Widerstands in der Türkei.
Die ersten 48 Stunden der Gezi-Proteste
Im Mittelpunkt des Films Gözdağı stehen sechs Hauptprotagonisten und haben eines gemeinsam – sie alle verloren innerhalb der ersten 48 Stunden bei den Protesten ihr Augenlicht. Auf die Frage, wie es mit dem Rechtsstreit für die Protagonisten des Films aussieht, bekommen wir leider zu hören, dass bisher nicht einmal Ermittlungen aufgenommen wurden.
Anhand der Interviews mit diesen Personen wird der anfängliche Verlauf rekonstruiert sowie auch mithilfe von Social-Media-Angeboten. So wird immer wieder mal ein Tweet oder ein Facebook-Post angezeigt. Dieses Mittel hat auch einen symbolischen Wert, da das türkische Fernsehen in den ersten Tagen über jene Proteste nicht berichtete und Informationen lediglich im Internet zugänglich waren.
Abgerundet wird der Film neben eigenen Aufnahmen mit sehr vielen Aufnahmen von ProtestteilnehmerInnen – Amateurvideos mit der Digitalkamera oder dem Handy. Denn gleich anfangs wurde vom Dokumentationsteam ein Aufruf gemacht, sodass alle ihre Fotos und Videos einsenden konnten. Durch die Auswahl dieser Videos wurde erreicht, dass die Zuschauer sich noch näher am Geschehen fühlen. Da die Gezi-Bewegung gerade auch für das Teilen und die Solidarität steht, wollten die Filmemacher das gleiche auch für den Film erreichen. So arbeiteten an diesem Projekt lediglich freiwillige Mitarbeiter. Demnach wurde auf jegliche Kommerzialisierung des Films verzichtet. Da der Film also keine Einnahmen erzielte, wurde er nicht in Kinos gezeigt, sondern stattdessen offen für das ganze Volk in Parks, auf Festivals etc. Dementsprechend konnte er auch im Internet verbreitet werden.
Medienfreiheit – in der Türkei?!
Obwohl Can Dündar normalerweise historische Dokumentationen macht, empfand er es dennoch als überaus wichtig, solch eine Dokumentation in die Wege zu leiten. Er erzählt, dass eine Zäsur des Films seitens der türkischen Regierung nicht durchgeführt werden konnte, da es sich eben um eine nicht-kommerzielle Produktion handelte. Stattdessen gab es aber andere Wege, bei den Filmemachern Druck auszuüben. So verlor er beispielsweise seinen Job, wie auch viele andere JournalistInnen. Generell gehöre der Journalismus eher zu den gefährlicheren Branchen in der Türkei; Drohungen stünden auf der Tagesordnung eines jeden Reporters. Mehr zur Pressefreiheit in der Türkei gibt es hier.
Die bisherige Stille der Bevölkerung der Türkei rühre genau durch solche Einschüchterungsmaßnahmen seitens der Regierung. Wie schon in der Vergangenheit würden noch heute Menschen für ihre eigentliche Meinungsfreiheit und ihre persönlichen politischen Stellungnahmen verhaftet oder wie dieses jüngste Beispiel zeige, sogar umgebracht werden. So wäre es früher nicht anders gewesen. Die 68er-Bewegung beispielsweise sei von der Regierung nahezu ausgelöscht worden. Laut Dündar hätte gerade diese Generation die Türkei heute womöglich besser regieren können.
Und wie geht’s nun weiter?
Der Film zeigt den zu Anfang erwähnten Verlauf der Proteste sehr gut: den plötzlichen Umschwung der friedlichen Proteste in ein gewaltbereites Durcheinander. Die gesamte Gewalt gebündelt in 60 Minuten ist vielleicht erdrückend, aber notwendig, um die Geschehnisse gut widerspiegeln zu können. Can Dündar betont immer wieder, dass die Gezi-Bewegung etwas ganz Besonderes ist. Doch wie kann solch eine Einzigartigkeit auf politischer Ebene verwirklicht werden? Denn nur mit Impulsaufständen wäre die Umsetzung dieses Bewusstseins sehr unwahrscheinlich. Bei den Gezi-Protesten waren eine Reihe von Gruppierungen zu beobachten, aber keine wirkliche Organisation. Hierfür hätte man aber gerade das gewisse Bewusstsein verbunden mit einer organisierten Struktur gebraucht. Vielleicht hätte man dann mit weniger mehr erreichen können.
Sicher ist jedoch, dass die Gezi-Bewegung eines bewirkt hat. Und zwar, dass die bisher angenommene Polarisierung der Bevölkerung der Türkei überbrückt werden kann. Menschen, von denen man annahm, dass sie verfeindet seien, haben Seite an Seite für ein und dieselbe Sache gekämpft. Menschen mit unterschiedlichen ethnischen Hintergründen, Menschen mit unterschiedlichen politischen Ausrichtungen und Menschen mit unterschiedlichen sexuellen Neigungen. Plötzlich war es nicht mehr wichtig, ob man Türke oder Kurde ist, dem Aleviten- oder Sunnitentum angehört, sich als Kommunist oder Kapitalist bezeichnet oder eben hetero-, homo- oder transsexuell ist. Sogar die rivalisierenden Istanbuler Fußballclubs taten sich für diese gemeinsame Sache zusammen. Umso schlimmer ist es, dass es seitens der Regierung einen neuen Anlauf zum Umbau des Gezi-Parks gibt.
Auf die Frage, wie man solch ein von Vorurteilen befreites und von Solidarität zeugendes Bewusstsein auf politischer Ebene ausweiten könne, konnte Dündar leider keine Anleitung geben. Doch all die Antworten auf diese Fragen seien im Grunde in der Gezi-Bewegung zu finden.
Tuğba Uzun & Dana Bolloff