Anwesenheitspflicht: Ja oder Nein? In scheinbarer Endlosschleife diskutieren Studierende, Dozierende und Politiker_Innen regelmäßig das Für und Wider der Anwesenheitspflicht. Alles Quatsch, findet unsere Autorin, denn das wirkliche Problem liegt ganz woanders.
Anwesenheit ja, Anwesenheitspflicht nein! Nur in Ausnahmen, in der Regel, überall und nirgends. Die Meinungen für das Für und Wider der Anwesenheitspflicht an deutschen Universitäten klafft weit auseinander und zieht sich wie ein roter Faden durch die Debatten von Politiker_Innen, Journalist_Innen, Studierenden und Dozierenden. „Seminare sind so nicht planbar“, sagen die Einen, „Hört endlich auf die Uni zu verschulen“ die Anderen. Dabei lenkt die Diskussion von den eigentlichen Kernproblemen der Bildungslandschaft ab und das sitzt ganz woanders. Aber ich fange besser der Reihe nach an…
Wie ich dachte, wie die Uni ist
Ich fing spät, aber nicht weniger enthusiastisch mit dem Studieren an. 25 war ich und meine Vorstellung davon, wie das Studieren an deutschen Unis heute ist, sollte sich so auch spät als falsch herausstellen. In meiner Vorstellung stellte das Studium einen deutlichen Kontrast zur Schule dar: Zur Uni ging nur, wer wirklich und wahrhaftig Interesse an den jeweiligen Inhalten hat. Ich malte mir aus, wie Kleingruppen von Studierenden in den Sommermonaten draußen auf dem Campus saßen und über Gramsci, Marx und Tolstoi diskutierten. Da flogen dicke Wälzer und fundierte Argumente durch die Luft, die Stimmen wurden laut und überschlugen sich, um den eigenen Aussagen mehr Bedeutung zu verleihen. Folgerichtig kam man gemeinschaftlich zu dem Schluss, dass die Welt so wie sie ist, nicht bleiben kann. In meiner Vorstellung waren die Mensa-Tische übersät mit Flugblättern, politischen Stellungsnahmen und Informationsmaterial für die bevorstehende Demo, der Campus bunt bemalt und voller Banner. Und in den Seminaren stritten sich die Studierenden mit den Dozierenden über die Relevanz und Irrelevanz bestimmter Seminarinhalte. Kurz um: In meinem Kopf war die Uni ein bunter und politischer Ort voller Weltverbesserer, die gekommen waren, um sich Streitgespräche in den Seminaren zu liefern und ihren Status als Studierende dazu nutzen wollten, um gesellschaftlich und politisch aktiv zu sein. Denn ich glaubte, dass die längst vergilbten Bilder studentischer Revolten die aktuellen Studierenden geprägt und motiviert hatten an die Uni zu kommen. Und ich dachte, dass auch andere den großen Kontrast zur Schule herbeisehnten, um sich endlich, endlich mit den Dingen auseinander setzen zu können, die sie wirklich bewegen.
Wie die Uni wirklich ist…
Dieser erträumte Uni-Kosmos zerplatzte jedoch schnell – und das bereits in der ersten Vorlesungswoche.
Zwar erinnern alte Graffitis und Fotos vergangener Uni-Tage aus den 80er-Jahren an den politischen Geist der ehemaligen Reformuniversität Bremen, wirklich spürbar ist davon aber auf dem großen Campus nur noch wenig. Selbst die wenigen Banner, die sich mit studentischen Themen befassen, sind mehrheitlich schon ein paar Jahre alt und wehen lustlos und müde im Bremer Wind. Und auch die politischen Flugblätter auf den Mensatischen sind deutlich in der Minderheit und stehen in direkter Konkurrenz zu unzähligen Werbeflyern, auf denen die günstigsten Stabilos und Marker in allen Farben angepriesen werden. In den Kursen stellen die Studierenden kaum noch Fragen zu Adorno und Co., sondern vornehmlich solche, die sich um Prüfungsleistungen, Credit Points und den angedachten Workload ranken. Ist das geklärt gehen meist die Laptops auf und die Unterhaltungen auf Facebook los. Kein Wunder, denn die einzelnen Sitzungen bestehen häufig aus Wikipedia-Referaten, die lieblos ein paar Stunden vor der Präsentation zusammengeschustert wurden und anschließend mäßig motiviert vorgetragen werden. Die daran anknüpfenden Diskussionen sind meist ähnlich zäh. Die inhaltlichen Diskussionsfragen von vorne, werden oft mit betretenem Schweigen und gesenkten Blicken von Hinten beantwortet. Kommt doch eine rege Diskussion zustande, sind einige der besonders unruhigen Studierenden vor allem darauf bedacht spätestens fünf Minuten vor Seminarende geräuschvoll ihre Sachen zu packen, um die wenigen debattierenden Kommilitonen auf das nahende Ende der Sitzung aufmerksam zu machen. Dabei sind es in den Kursen meist eh dieselben, die das Wort ergreifen, den Text gelesen haben und kritische Nachfragen stellen, während die Seminarpräsenz spätestens ab der dritten Sitzung kontinuierlich abnimmt. Natürlich gilt das nicht für alle Studierende und auch nicht für alle Seminare. Und natürlich trägt auch die teilweise mangelhafte didaktische Vermittlungskompetenz, sowie monotones Reproduzieren der eigenen Werke mancher Professor_Innen zu den sich leerenden Stuhlreihen bei – an der Studiensituation ändert das aber leider trotzdem nichts.
Was die Studierenden heute wollen
Glaubt man den Umfrageergebnissen der Universität Frankfurt am Main zur Zufriedenheit deutscher Studierender, so scheint die deutliche Mehrheit trotz diesen Umstandes überaus zufrieden mit ihrem Studierendenleben zu sein. 75% der Befragten bewerten dort die Inhalte und Qualität ihrer Universitäten und Hochschulen mit sehr gut oder gut. Aber wie passt das mit leeren Seminarräumen, mangelnder Beteiligung, schlechten Referaten und geringen Text-Downloads zusammen?
Auf der einen Seite ist nicht zu unterschätzen, dass knapp 70 % der Studierenden neben dem Studium arbeiten müssen, um sich ihren Lebensunterhalt zu finanzieren oder den mickrigen Bafög-Satz, der nicht zum Leben geschweige denn zum Wohnen reicht, aufzustocken. Wer es mit Nebenjob(s) nicht in Regelstudienzeit zum Abschluss schafft oder wer sich hochschulpolitisch an der Uni einbringt und deswegen länger braucht, kriegt spätestens nach dem sechsten Semester ein Problem, wenn ihm ersatzlos das Geld gestrichen wird. Aber das ist nicht der einzige Grund:
Schaut man sich die Studie genauer an, zeigt sich, dass die Studienmotivation nur noch wenig mit dem Studieren an sich zu tun hat. Hauptsächlich versprechen sich die Befragten bessere Berufschancen auf einem hart umkämpften Arbeitsmarkt und ein allgemein höheres Einkommen durch einen entsprechenden Bachelor- oder Masterabschluss. Wissenschaftliche Bildung als Antrieb finden dabei die wenigsten Studierenden entscheidend.
Treffen diese Ansichten und Absichten auch noch auf die Einser-Noteninflation der Schulen – die nahezu jeden berechtigt die Uni zu besuchen – und außerdem auf einen Arbeitsmarkt, der scheinbar selbst Lagerist_Innen nicht mehr ohne Uni-Abschluss einstellt, dann kann es nicht verwundern, dass so viele junge Menschen wie möglich an die Uni wollen. Auch wenn die dort vermittelten Inhalte mit ihren Interessen so viel gemeinsam haben wie Donald Trump mit Diplomatie und geografischen Kenntnissen.
Was das mit der Anwesenheitspflicht zu tun hat
Betrachtet man all diese Faktoren, dann führen sie in ihrer Gesamtheit unter anderem dazu, dass Texte nur überflogen werden, die Diskurse in den Seminaren ausbleiben und die Studierenden stets den Weg des geringsten Widerstandes gehen und dabei dennoch mit den Studienbedingungen „sehr zufrieden“ sind. Und genau aus diesem Grund ist die Anwesenheits-Debatte schlichtweg Quatsch.
Natürlich sind Seminare kaum planbar, wenn Dozierende nie wissen wer heute kommt oder ob überhaupt jemand kommt. Selbstverständlich lässt sich so nur schwerlich auf die einzelnen Sitzungen inhaltlich aufbauen und logisch steht hinter den Seminaren immer jemand der sich Mühe gibt und Zeit investiert. Und auch auf Studierendenseite wäre eine rege Präsenz, die mit anregenden Debatten einhergeht, wünschenswert. Aber sind wir doch mal ehrlich: Wem ist denn geholfen, wenn zwar alle da sind, die meisten jedoch schlicht ihre Zeit absitzen? Ist ernsthaft davon auszugehen, dass die zwangsverpflichteten Studierenden plötzlich und von Null auf Hundert eine intrinsische Motivation und Begeisterung für die Seminarinhalte entwickeln? Macht es wirklich Sinn das Bologna-Reform-Korsett noch enger zu schnüren und die Uni weiter zu verschulen? Nimmt man damit nicht auch gerade den interessierten und engagierten Studierenden die Freiheit, den Raum und die Autonomie? Und vor allem: Verschleiert es nicht die eigentliche Debatte um die Zukunft der Hochschulen?
Was die Unis sich fragen müssen
Die Frage, die sich die Unis wirklich stellen müssen, ist nämlich nicht die der Anwesenheitspflicht. Denn diese ist nur ein kurzzeitiger Kitt, der das in sich marode Bildungssystem mit seinen neuen, von Außen indoktrinierten Ansprüchen und Anforderungen, vermeintlich zusammen hält. Die Frage ist doch viel mehr die: Wie soll die Uni aussehen und was soll sie leisten können?
Verstehen sich die universitären Betriebe als „Ausbildungsstätte deluxe“ mit vielseitigem Praxisbezug zur bestmöglichen Vorbereitung auf das praxisorientierte Berufsleben? Wenn ja, dann muss sie ihre strukturelle und inhaltliche Ausrichtung komplett überdenken und sich dem Arbeitsmarkt, der wachsenden Anzahl Studierender und den Ansprüchen endlich wirklich anpassen.
Oder aber will die Universität ein Ort sein, an dem vornehmlich eine begrenzte Anzahl an Menschen ausgebildet werden, die wissenschaftlich tätig sein wollen und/oder wirklich an den Lehrinhalten interessiert sind? Sollte dem so sein, so müsste sich die Bildungslandschaft grundsätzlich verändern: Die Einser-Inflation müsste ihr Ende finden, Ausbildungsberufe eine bessere Reputation genießen und die Arbeitgeber bereit sein Menschen mit einem Realschulabschluss nicht direkt von der Bewerber_Innen-Liste zu streichen. Denn, wenn junge Menschen nur noch studieren, um sich in der vermeintlichen Gewissheit finanzieller und beruflicher Absicherung zu wissen und nicht mehr des Studierens wegen, dann läuft hier irgendwas gewaltig schief. Also lasst uns doch lieber darüber streiten!
Anna Siewert
Bild: Campus Grün Universität Lüneburg