Ein rosa Gummi-Flamingo ragt inmitten der Diepholzer Waldlichtung über die tanzende Menschentraube und wacht stolz und kunstoffhaltig über das Geschehen. Synthie-Beats überlagern weiche Gitarrenakkorde. Waldglimmen dringt durch das Blätterwerk, eine Seifenblase zerplatzt. Das Mädchen mit Blumenkranz schwingt den Flamingo wild über ihren Kopf und scheint unter dem leuchtenden Blätterdach in Waldrauschen, Glitzerstaub und elektronischen Vibes zu zerfließen.
Das Appletree Garden Festival 2016 verzauberte am letzten Juli-Wochenende nicht nur Plastikvögel und Blumenmädchen, sondern ließ Liebhaber von Singer/Songwriter-Folk, Indie-Rock, Electro-Pop und Kreativakrobatik verschiedenster Couleur an der glitzernden Atmosphäre teilhaben. Zum 16. Mal organisierten der Diepholzer Verein zur Förderung der Jugendkultur sowie zahlreiche freiwillige Helfer und Mitarbeiter einen Apfelgarten feenhafter Pop-Kultur.
Zukunftsweisende Line-Ups: Vom sechsten Sinn der Bandauswahl
Mit seiner hippesken Location war das Appleetree Garden lange ein Geheimtipp abseits großer Festivals. Mittlerweile ist das Indie-Festival mit 5000 Besuchern und mehr als 30 Künstlern in der Indie-Szene deutschlandweit für seine zukunftsweisenden Line-Ups bekannt. Häufig spielten Bands als unbekannte Newcomer auf dem Festival und sollten danach ihren Durchbruch in der deutschen und internationalen Musiklandschaft erleben – so wie Annenmaykantereit, Olli Schulz, Bonaparte, Future Islands, Bombay Bicycle Club und viele weitere. Das Appletree Garden kann auf eine legendenreiche Musikgeschichte und Festivalkultur zurückblicken. Die Frage ist jedoch, ob es heute noch dem Ruf der Legende gerecht wird.
Traumtanz und Glitzerstaub auf den Konzerten
Vergleicht man die Line-Ups der letzten Jahre mit der diesjährigen Aufstellung, fällt sofort auf: Der Glitzerstaub legt sich auch auf die Bandauswahl. Künstler wie Lilly Among Clouds, Sara Hartmann und Me and My Drummer schmiegen sich perfekt in das leuchtende Blätterrauschen. Breite Synthie-Wände umwehen einen häufiger als verzerrte Gitarren, traumtänzerische Vibes laden eher zum Augenschließen und Stehenbleiben ein als zum wilden Tanz. Jedes Konzert baut mehr und mehr Spannung zum nächsten Künstler auf, doch der tägliche musikalische Höhepunkt ist gut zwischen leuchtenden Zweigen versteckt – oder es gibt schlicht keinen. Dann sorgt das Festival wieder mit Bands wie Goose oder RSS Disco für mehr Action und Tanzwut. Und einige Bands werden dem Ruf des Festivals mehr als gerecht: Die Kölner Jungs von Woman zeigen als Newcomer mit nur fünf Tracks, dass ihr Potenzial weit über den Rhein hinausgeht. Parcels aus Australien könnten mit Groove und Gefühl der funky Cousin von Tame Impala sein. Und als finaler Abschluss und Secret Headliner rockt Bilderbuch mit Gold, Glamour und Gitarrensoli den Festivalwald. Beeindruckende Darbietung, selbst für Nicht-Fans. Insgesamt strahlen unter den Konzerten viele Bands durch das Blätterdach, einige waren jedoch nur weiches Blätterrauschen. Beides gehört wohl auf eine gesunde Waldlichtung.
Knicklichter, Aperol Spritz und ganz viel Liebe
Doch auf dem Appletree über das Line-Up zu meckern, ist für Fans eine Untat. Schließlich kommt man nicht für einen Headliner oder seine Lieblingsband auf das Festival, sondern für das Appletree-Feeling. Und das besteht aus weit mehr als aus fetzigen Konzerten. „Es ist sehr alternativ und bio und so. So haben alle nen Common Ground. Ich jedenfalls gehe darin auf.“ , so Sarah V. nach dem Konzert von Alex Vergas. „Die Location ist für mich wie eine Traumlandschaft oder Fantasywelt.“ Der rosa Flamingo würde Sarah zustimmen.
Die Festivalkultur auf dem Appletree Garden Festival lebt damit nicht nur durch Ort und Musik, sondern durch seine Fans. Und davon gibt es auf dem Appletree viele. Wandert man durch die grünen und müllfreien Pfade des Campingplatzes, trifft man früher oder später auf die APSPRI-Bar – ein Self-Made-Bar-Tresen mit Aperol Spritz, Gin und Musik. „Wir haben aus günstigen Materialien alles selbst gebaut“, erklärt Tim aus Düsseldorf. Tim und seine Freunde hatten vor einigen Jahren schon ein Nagelstudio auf dem Campingplatz des Appletree eröffnet. Dieses Jahr ist es eine Bar für alle Camper, die Teil der Festivalkultur sein möchten. Oder einfach bis morgens um halb sieben feiern wollen. Selbst international bekannte Künstler wie Monolink trifft man tagsüber auf einem Campingstuhl sitzend an der Bar. „Erst waren manche angefixt, als wir die Bar aufgebaut haben. Dann haben alle mitdekoriert, und jetzt läuft es von alleine.“ Ein Symbol für das Appletree-Feeling, gebaut aus Knicklichtern, Ästen und Liebe.
Philipp Nöhr
Fotos: Max Hartmann