Im letzten Jahr war die Vielzahl der deutschen Nachrichten über die Türkei eher positiv geprägt: Oft wurde beispielsweise über das wirtschaftliche Wachstum berichtet, oder in letzter Zeit über den Verhandlungsprozess, der endlich den Krieg mit den kurdischen Rebellen im Osten der Türkei beenden sollte. Viele in Deutschland waren, vermute ich, überrascht, dass ‚plötzlich‘ Tausende von Menschen auf den Straßen waren. Doch so plötzlich kam das Ganze meiner Meinung nach nicht.
Erdogans Ton hat sich seit dem Anfang seiner dritten Regierungsphase verschärft. Sein Regierungsstil wurde zunehmend autoritär. In jüngster Vergangenheit äußerte er sich über private, intime Themen wie Abtreibung, Kinderanzahl und Alkoholkonsum oft in sarkastischem bis abwertendem Ton. Dies erklärt eine der Hauptforderungen von den Protestierenden im Gezi-Park: „Yasam tarzima karisma“ – „Lass uns in Ruhe mit unserem Lebensstil“
Wie hat das Ganze angefangen?
In seiner Reaktion zu den Protesten hat Erdogan immer wieder betont, dass es den Protestierenden nicht um den Gezi-Park und die Bäume dort gehe. Es sei alles von der Opposition sowie ausländischen Mächten geplant, die nicht wollen, dass es der Türkei gut geht. Jenseits solcher Verschwörungstheorien kann man sagen, dass die Forderungen der Protestierenden nach demokratischen Rechten tatsächlich über den Park hinausgehen. Das heißt wiederum nicht, dass der Park und die Bäume ihnen nicht wichtig sind. Ganz im Gegenteil, ein ökologisches Bewusstsein war in unterschiedlichen Protestaktionen sichtbar. Ein Beispiel sind die täglichen Müllsammlungen am Taksimplatz und im Park. Darüber hinaus hat vor allem der Kampf für den Erhalt der Bäume die Bewegung in die Wege geleitet.
Der Umbau des Gezi-Parks sollte trotz der laufenden Gerichtsverhandlungen Ende Mai beginnen. Geplant ist der Nachbau einer osmanischen Kaserne, die bis 1939 dort stand, mit Einkaufsläden und Wohnungen. Um dies zu verhindern, haben ca. 50 Menschen aus der Gruppe „Taksim Dayanismasi“ am 27. Mai im Gezi-Park Zelte aufgebaut. Am 29. Mai äußerte sich Erdogan über diese Proteste und den Umbau des Gezi-Parks und sagte: „Egal, was ihr tut, wir haben für diesen Ort unsere Entscheidung getroffen und wir werden es tun.“ Diese kompromisslose Art und Weise prägt Erdogans Politikstil. Entsprechend seiner Haltung hat die Polizei am 30. Mai gegen 5 Uhr morgens die Menschen im Gezi-Park unter Gewalteinwirkung, mit Tränengas und Wasserwerfern weggetrieben und ihre Zelte verbrannt. Diese Polizei-Aktion war der Funke im Pulverfass. Noch am gleichen Tag kamen Tausende von Menschen zum Taksimplatz. Zeitgleich organisierten einige andere Menschen Proteste in ihren Städten. Für viele – wie mich – war diese Aktion gegen Menschen, die friedlich ihr demokratisches Recht zum Protest genutzt hatten, einfach ungerecht! Dass Erdogan 50 Prozent der Stimmen gewonnen hat, gibt ihm nicht das Recht, über alles zu entscheiden und diese Entscheidungen trotz Opposition durchzusetzen. Unter einer demokratischen Regierungen sollen auch die Meinungen der Minderheiten berücksichtigt werden.
Social Media und die Proteste
Eines der oft diskutierten Themen im Rahmen dieser Proteste war die Rolle der Medien. Während die Mainstream-Massenmedien für ihre Zurückhaltung kritisiert worden sind, waren Social Media Plattformen mit die wichtigsten Akteure im gesamten Prozess. In den ersten Tagen der Proteste haben die Hauptnachrichtensender der Türkei CNNtürk und NTV kaum Bericht erstattet. Aus diesem Grund wurde vor ihren Gebäuden protestiert. Die kleinen alternativen Sender wie Halk TV und Hayat TV haben an Relevanz gewonnen, da sie live über die Geschehnisse bezüglich des Gezi-Parks berichtet haben. Facebook und Twitter wurden von vielen sehr aktiv genutzt, um zu protestieren, Informationen weiterzuleiten und sich zu informieren. Da es zum Teil zu Desinformationen kam, haben die Menschen im Laufe der Zeit Kontrollmechanismen entwickelt, um dem entgegen zu wirken. Wenn beispielsweise eine falsche Information über Verletzte und Tote herumgeschickt wurde, folgte eine zweite Welle, die die Fehlinformationen korrigierte. Die Social Media haben die Protest-Bewegungen auf den Straßen der Türkei alles in allem unterstützt und wiedergespiegelt.
Wie geht es nun weiter?
Nach 19 Tage langen Protesten im Gezi-Park mit solidarischer Küche, viel Musik und Tanz, Bibliothek und unterschiedlichen künstlerischen Aktionen, hat die Polizei am 16.06.2013 den Park erneut geräumt. Einen Tag vor der geplanten AKP-Kundgebung in Istanbul, an einem Samstagabend, an dem viele Menschen mit ihren Kindern in besagtem Park waren, wurde der Polizei-Einsatz durchgeführt. Nach der Räumung des Parks äußerte sich Erdogan weiterhin in seinem üblichen sarkastischen Ton über die Proteste und behauptete, dass der Park endlich wieder „sauber“ sei. Die Proteste haben ganz bestimmt nicht dazu geführt, dass Erdogan seinen Ton über die Opposition oder die anderen Lebensstile verändert. Im Gegenteil hat er die Protestierenden am Anfang „Plünderer“ genannt, und danach „Marginale“. Zudem wird sogar erwartet, dass Menschen, die sich in sozialen Netzwerken zu den Protesten geäußert haben, zukünftig angeklagt werden. Während die Social Media das Organisieren von solchen Protesten sowie alternativer Informationsflüsse erleichtern, machen sie aber auch die Überwachung und Kontrolle von Informationen viel einfacher. Es wird erwartet, dass die AKP-Regierung zukünftig strengere Gesetze durchsetzt, die die Überwachung der Social Media vereinfachen.
Heißt das aber, dass man keine positiven Folgen in dieser neuen, kreativen und enthusiastischen Protestwelle sehen kann? Im Gegenteil, ich denke, dass dies ein wichtiger Schritt für die Etablierung einer demokratischen Kultur in der Türkei sein kann. Zunächst haben viele Menschen in der Türkei ihre Angst überwunden, auf die Straße zu gehen, um ihre Meinung zu äußern. Zudem haben sie mit Mut und viel Kreativität gezeigt, dass Erdogans Macht nicht endlos ist. Dies kann der Anfang für eine neue Protestkultur in der Türkei sein. Diese Proteste haben außerdem viele Menschen zusammengebracht, die über andere Themen - wie das Kurdenproblem – unterschiedliche Meinungen haben. Beispielsweise wurde gegen die Polizeigewalt vom 28.06.2013 gegen Demonstranten in der kurdischen Stadt Lice, Diyarbakir, am folgenden Tag in Taksim von vielen unterschiedlichen Gruppen protestiert. Die Aktivisten treffen sich regelmäßig in unterschiedlichen Parks in Istanbul (auch in Ankara, Izmir u.a.) und diskutieren verschiedene politische Themen. Eine solche aktive Präsenz auf den Straßen der Türkei sowie diese breite Beteiligung aus verschiedenen Segmenten der Gesellschaft in Protesten ist neu in der Türkei (insbesondere nach dem Militärputsch in 1980). Eine solche aktive Beteiligung von Individuen an politischen Entscheidungsprozessen, in dem sie ihre Meinung äußern, ist essenziell für die Zivilgesellschaft und eine demokratische Kultur.
Cigdem Bozdag