Pilgern, war das früher nicht vor allem was für Religiöse? Heute scheint sich der Jakobsweg hingegen immer mehr zu füllen, mit Alten und Jungen, Ausgebrannten und Festgefahrenen, Sinn- und Sich-Selbst-Suchenden. In einer Zeit vor Abstandsregeln und Gesichtsmasken pilgert ein KROSSE-Autor drauf los.
So: „Ich bin dann auch mal eben kurz weg“, denke ich mir, als ich am späten Abend den Flieger nach Porto, der mittlerweile über eine Stunde Verspätung hat, mit (gerade noch Handgepäck-)Backpack-Rucksack und Kopfschmerzen betrete. Am Morgen saß ich noch in einem Seminar in der Uni, morgen früh bin ich auf einmal Pilger – vom lateinischen peregrinus, „in der Fremde sein“ -, auf der Suche nach… keine Ahnung. Erstmal nach einer Kopfschmerztablette.
„Ich bin dann mal weg“, sagte sich auch Hape Kerkeling im Jahre 2001, kurz nach einem Hörsturz. Fünf Jahre später veröffentlicht er seinen gleichnamigen Bestseller, in dem er seine sechswöchige Wanderung auf dem fast 800 Kilometer langen Camino Francés schildert. Ohne Bestseller-Ambitionen bestreite ich den portugiesischen Jakobsweg, der vergleichsweise mit ab Porto „nur“ etwa 250 Kilometern für Pilger-Neulinge, wie ich einer bin, ziemlich gut geeignet ist. Eigentlich geht es beim Pilgern nicht ums Ankommen. Ein Ziel braucht eine Pilgerreise aber – und das ist stets die Kathedrale von Santiago de Compostela im Nordwesten Spaniens, in der die Gebeine des Heiligen Jakobus liegen sollen. Als Apostel soll dieser mal mit Jesus Christus persönlich an einem Tisch gesessen haben. Darüber hinaus gibt es um ihn zahlreiche Legenden und Kontroversen, was nach fast 2000 Jahren stiller Post und Gemunkel ja nicht wirklich verwunderlich sein dürfte.
Einfach den gelben Pfeilen folgen?
Von der Hafenstadt Porto sehe ich wenig, nur die Kathedrale, in der ich einen Pilgerpass und meinen ersten Stempel bekomme. Danach laufen wir direkt los, raus aus der Stadt, rein in das Land. Ich pilgere mit einem alten Bekannten aus der Slowakei, Matis, der bereits ab Lissabon läuft und mich an jenem Morgen in Porto einsammelt.
Wochen zuvor hatte er mir noch eine Packliste geschickt. Möglichst jedes unnütze Gramm vermeiden, das ist die Regel. Du bist, was du trägst. Besonders gut vorbereitet fühle ich mich am Morgen nach der Ankunft in Porto dennoch nicht, trotz reichlich Hirschtalg für die Füße und über zweidutzend Müsliriegeln mit hohen Ballaststoff-Anteilen in meinem Rucksack. Die Flüge hatte ich einen guten Monat vorher gebucht. Die neuen Wanderschuhe sind kaum eingelaufen und wo sie mich hintragen müssen, das weiß ich auch noch nicht genau. Irgendwie nach Santiago eben. Einfach den gelben Pfeilen folgen? Notfalls weiß Matis Bescheid.
Der frühe Hahn fängt den Wurm
Links oder geradeaus? – den Küstenweg oder die Route durch das Landesinnere? Viele pilgern an der Küste, wir nehmen den Weg durch das Land. Am ersten Tag laufen wir fast 30 Kilometer. Unsere nächtliche Bleibe gleicht einem Kloster, wirkt abgeschieden, viele Menschen sieht man nicht. Nebenan ist ein alter Friedhof, aber kein Supermarkt. Wir teilen uns das Zimmer mit einer jungen Spanierin aus Madrid, die in ihrem Bett Yoga-artige Bewegungen macht. Nach weiteren 30 Kilometern erreichen wir am Tag darauf eine Stadt namens Barcelos, aus der die berühmte, aber auch berüchtigte Legende eines Hahns stammt, dem „Galo de Barcelos“, der als (inoffizielles) Symbol Portugals in fast jedem Souvenir-Shop des Landes zu finden ist.
Früh aufstehen ist das Gebot. Auf dem Camino ist es nicht so wichtig, ob du vorher Nachtigall oder Lerche, Student*in oder Rentner*in warst. Wacht man morgens mit den ersten Sonnenstrahlen und neben leeren Pilgerbetten auf, ist das kein gutes Zeichen. Gegen schnarchende Bettnachbar*innen helfen Oropax, die standen auch auf der Packliste. Die Temperaturen sind morgens noch angenehm, der Akku des Smartphones ist wieder aufgeladen, der Sonnenaufgang in der Dämmerung darüber hinaus ziemlich schön. Gen Mittag zwingen Sonne und Füße einen dann schließlich zu mehr Pausen. „Die letzten zehn Kilometer sind stets die schwersten.“, schreibe ich am dritten Tag in mein digitales Tagebuch – mein Smartphone.
Fußblasen und W-Fragen
An diesem Tag gleichen die Betten der neuen Herberge Patienten- oder Krankenbetten. Man sieht Desinfektionsspray, Pflaster, Verbände und Nadeln, Menschen, die humpeln oder auf dem Bett sitzen und mit ihren Füßen beschäftigt sind. Nur wenige können sie umgehen und auch ich erlaufe mir schließlich zwei kleine Fußblasen. Etwa 90 Kilometer nördlich von Porto, in Ponte de Lima, zweifle ich zum ersten Mal ernsthaft daran, ob ich die nächsten 160 Kilometer tatsächlich einfach so weiter laufen kann, wie ich es die letzten 90 getan habe.
Stellt ein Kind eine „Warum“-Frage, etwa, warum der Himmel blau sei, mögen Erwachsene nicht selten bereits eine passende Antwort parat haben. Wegen der Rayleigh-Streuung des Lichts, dessen Weg durch die Atmosphäre am kürzesten ist, wenn die Sonne hoch am Himmel steht, zum Beispiel. In diesem Falle gibt es eigentlich nur eine richtige Antwort, auch wenn man sie eventuell etwas kindgerechter hätte formulieren können. Auf die Frage, warum man den Jakobsweg läuft, gibt es hingegen sehr viele Antworten und falsch ist keine von ihnen. Drei Tage vor Ankunft in Santiago stelle ich sie einem etwa 40-jährigen Dänen, der unter mir im Hochbett schläft und mich später bei Facebook addet. „To calm down“, ist seine Antwort. Er habe beruflich viel mit Zahlen zu tun.
Stempel und Antworten?
Eine weitere W-Frage, die sich viele stets kurz nach der Ankunft in einer Pilgerherberge stellen, ist die Frage nach dem W-LAN-Passwort. Auch mir scheint die Verbindung zur Außenwelt in dem Moment ein großes Bedürfnis. Zuvor bekommt man an der Rezeption allerdings noch einen Stempel. Diese gibt es ansonsten auch in Cafés, Kapellen und Kirchen. Man muss sie sammeln, um am Ende nämlich die Compostela zu bekommen, die Pilgerurkunde. Zwei Stempel benötige man am Tag, so heißt es. An manchen sammele ich drei, an einem sogar vier. Doch woher kommt dieser plötzliche Ehrgeiz?
Mit Ängsten und Fragen ist man wohl sein Leben lang beschäftigt, auch oder gerade auf dem Jakobsweg. Mögliche Antworten liegen allerdings nicht immer am Wegesrand, unter dem Baumstamm oder Pilgerbett. Auch nicht nach einer bestimmten Anzahl zurückgelegener Kilometer und besonders nicht dann, wenn man explizit nach ihnen sucht. Nach wenigen Tagen grüße ich vermehrt mit „Bom Caminho“, ab halber Strecke mit „Buen Camino“, – „habe einen guten Weg“ – und lerne, was man bekommt, wenn man in Spanien einen „normalen“ Kaffee bestellt – einen Espresso.
Elf lange Pilgertage durch zwei Länder – sich bei all dem Erlebten kurz zu fassen ist gar nicht so einfach. Klar, man kann über wunderschöne Landschaften und Brücken, schlafende und bellende Hunde oder singende Weggefährten schreiben. Laufen muss man ihn aber schon selbst. Und trotz vieler unterschiedlicher Begegnungen, läuft man ihn im Kopf eben auch allein. Ich erinnere mich an die vielen Städte, die ich vor mittlerweile einem guten Jahr etappenweise erreicht habe: O Porriño, Redondela, Pontevedra, Caldas de Reis, Padrón. Die letzte hieß dann Santiago de Compostela. Ein Jahr später sind die Herbergen größtenteils leer. Doch mit „Besonnenheit“ darf seit Juli in Spanien wieder gepilgert werden. Pilgern kann man darüber hinaus überall, auch in Deutschland. Der Jakobsweg beginnt schließlich bereits vor der eigenen Haustür.
Von: Lennart Bendixen