Der Zweite Weltkrieg endete mit schätzungsweise 20 Millionen Halbwaisen. Krosse portraitiert die Generation dieser Kriegskinder in einer literarischen Auseinandersetzung mit persönlichen Geschichten und Kriegsgeschehnissen. Ein Essay.
Im Zweiten Weltkrieg starben 19 Menschen pro Minute und bis zu 14 Millionen Deutsche flüchteten aus ihrer Heimat. Darunter Hunderttausende Kinder, die ihr Hab und Gut, ihr Zuhause, Freunde und Familienmitglieder an den Krieg verloren.
Der Krieg endete mit schätzungsweise 20 Millionen Halbwaisen.
Heute sind diese Kriegskinder im Rentenalter. Und wenn Ruhe einkehrt, kommen häufig Erinnerungen hoch:
Bombenangriffe, Hunger, Kälte, Elend und Zerstörung.
Angst, Ungewissheit und Hoffnung.
Zurück blieben Verluste, Traumata und psychosomatische Erkrankungen.
Der Psychoanalytiker und Altersforscher Hartmut Radebold beschäftigt sich mit den Kriegskindern des Zweiten Weltkrieges und erforscht, inwiefern Traumata auch in hohem Alter noch aufgearbeitet werden sollten bzw. können. Diese Überlegung fundiert auf einer erschreckenden Feststellung: „Geschätzt haben etwa 80 Prozent der deutschen Familien nie über den Ersten noch den Zweiten Weltkrieg mit seinen Folgen und Erfahrungen gesprochen“, so Radebold. Dieser Artikel soll dazu beitragen, diese Erfahrungen nun literarisch aufzuarbeiten. Dafür spricht Krosse mit den letzten Zeitzeugen und portraitiert eine ganze Generation.
Eine alte Frau steht am Fenster und blickt auf die Straße. Blaue Augen in einem faltigen Gesicht. Wehmut und Kummer erkennbar. Die Frau denkt an damals.
Es wird nicht gesprochen. Sie sitzen beim Abendbrot. Der Vater, die Mutter, das Mädchen und der Bruder. Der Lichtkegel auf der gestreiften Tischdecke drückt den Rest der kleinen Küche in den Hintergrund. Sie haben den Tag nicht gemeinsam verbracht, sie hätten sich viel zu erzählen. Das Mädchen hatte keinen schönen Tag. Sie wurde wieder gehänselt. Aber es wird nicht gesprochen. Sie schweigen. Es ist ein erdrückendes Schweigen.
Ein Bellen. Der Hund hat Hunger. Gerne würde das Mädchen dem Hund etwas von ihrem Würstchen abgeben. Aber Vater sagt, es wäre frech, solche Gedanken zu hegen. Sie möchte nicht frech sein.
Ein Knallen. Ein kindlicher Schrei. Laute Stimmen. Dann Stille. Es wiederholt sich. Viele Wiederholungen. Das Mädchen hält sich die Ohren zu. Die kleinen, kalten Hände auf die Ohren gepresst, steht sie da und blickt ihre Mutter aus großen Augen an. Sie erwartet, dass die Mutter etwas tut. Aber die Mutter kocht einen Kaffee. Das Mädchen beobachtet die Mutter gerne. Sie spricht nicht viel, aber sie hat warme Augen. Und ein schönes Lächeln. Sie lächelt selten.
An manchen Tagen kommt das Mädchen erst sehr spät heim. Dann hat sie mit den anderen Kindern im Hof gespielt. Manchmal laufen sie auch zum Lietzensee, gehen dort im Sommer baden und im Winter Schlittschuhfahren. An warmen Tagen glühen ihre Wangen abends und ihre Haare kringeln sich um ihr Gesicht. Und Sommersprossen hat sie, ganz viele. Sie mag ihre Sommersprossen nicht. Aber die Sonne schenkt sie ihr und deswegen ist das in Ordnung. Das Mädchen mag die Sonne.
An kalten Tagen spürt sie ihre Hände abends manchmal nicht mehr. Dann ist der Ofen schon an, wenn sie heimkommt und sie kann sich für eine Weile davor wärmen. Außer wenn das Heizöl leer ist und das geschieht immer häufiger. Manchmal kommt die Großmutter und liest ihr etwas aus dem dicken Märchenbuch vor. Sie stirbt an Lungentuberkulose, während das Mädchen ihre Hand hält. Das Mädchen denkt, dass die Großmutter ihr einen Engel geschickt hat, als die Schwester geboren wird.
Kriegsjahre. Krieg. Jahrelang.
Der Vater und der Bruder sind fort. Sie helfen, das Vaterland zu retten, sagt die Mutter. Das Mädchen ist stolz, aber zu Hause ist es stiller geworden. Der Bruder fehlt ihr.
Ein Schuss. Ein Schrei. Scham. Scham, weil sie zuschaut. Mutter hält ihr den Mund zu. Ihr Schrei erstickt. Sie reist die Augen auf, kneift sie zu. Sie wusste nicht, dass Menschen so etwas tun. Dass Menschen zu so etwas fähig sind. Sie sieht so etwas öfter. So etwas und viele andere grausamere Dinge.
Das Mädchen verspürt Hunger. Sie überlegt, wann sie das letzte Mal etwas anderes gegessen hat als Kartoffeln. Sie erinnert sich nicht. Aber sie hat eine neue Puppe. Die Nachbarn haben sie vergessen, als sie fortgingen. Das Mädchen fragt sich, ob sie wiederkommen werden.
Die Straße ist leer geworden, sie sieht kaum andere Kinder auf der Straße.
Die Schwester weint immerzu. Ihre kleinen Hände greifen nach dem Mädchen.
Aber das Mädchen darf die Schwester nicht mehr berühren, sagt die Mutter.
Es ist Typhus, sagt die Mutter. Fünf Tage später weint die Schwester nicht mehr.
Bombenangriffe, Hunger, Kälte, Elend und Zerstörung.
Angst, Ungewissheit, Hoffnung.
Sie gewöhnt sich daran. Kann man sich an so etwas gewöhnen?
Die Mutter erzählt es dem Mädchen an einem grauen Oktobernachmittag, als sie gerade aus der Schule kommt. Die Mutter weint nicht. Sie fängt bloß stumm an, ihre Habseligkeiten in Koffer zu packen. Dies sollte ihr letzter Tag in Berlin gewesen sein.
Irgendwann ist der Krieg vorbei.
Das Mädchen ist nun eine junge Frau.
Es wird nicht gesprochen. Sie sitzen beim Abendbrot. Die Mutter und die junge Frau. Der Lichtkegel auf der gestreiften Tischdecke drückt den Rest der kleinen Küche in den Hintergrund. Zwei Plätze sind leer. Der Bruder und der Vater fehlen.
Sie steht am Fenster und schaut auf die Straße. Sieht die vielen Menschen, fühlt die Anonymität. Ein Mädchen bleibt stehen und betrachtet sich in einem Autospiegel. Scheu, flatterig, unentschlossen. Sie blickt sich um, streicht sich eine Haarsträhne hinter das linke Ohr, schaut noch einmal. Dann verschwindet sie mit großen Schritten um die Hausecke. Die junge Frau fragt sich, ob sie zu ihrem Geliebten gehe. Ihre Mutter sagt, es sei an der Zeit, dass auch sie einen Geliebten fände. Dass sie heiraten und Kinder kriegen solle.
Aber sie würde gerne studieren. Viele Frauen studieren inzwischen. Aber die Mutter sagt, eine Frau gehöre in das
Haus, solle die Kinder und die Küche hüten. Sie weiß noch gar nicht, ob sie Kinder haben möchte. Ob diese Welt Kinder verdient hat. Aber diese Welt ist gut. Natürlich ist sie gut. Der Krieg ist vorbei. Das Leben geht weiter.
Haushaltsschule. Tanzabende. Kinobesuche. Turnverein. Lesezirkel. Theater. Liebhaber.
Es wird nicht über die vergangenen Jahre gesprochen. Niemals.
Hochzeit. Kinder. Drei wunderbare Kinder, zwei Mädchen, ein Junge.
Enkelkinder. Vier an der Zahl.
Es wird sich nicht erinnert. Nicht laut, vielleicht leise.
Sie erinnert sich. Sie wird sich immer erinnern.
Das Mädchen ist nun eine alte Frau. Sie steht am Fenster und blickt auf die Straße. Die Welt hat sich verändert. Vieles ist anders, nicht mehr wie gewohnt. Es sind viele gute Veränderungen, findet sie. Durch Anpassung und Gewohnheit hat auch sie sich verändert. Dennoch ist in ihr noch das Mädchen und manchmal hört sie sie in ihren Träumen. Ihre Geschwister, die sie viel zu früh verlor.
Dieses Portrait eines Kriegskindes steht hier für eine ganze Generation; eine Generation, die dazu erzogen wurde, keine Bindungen aufzubauen.
Keine Gefühle zu zeigen, keine Liebe zu geben. Keine Trauer, kein Vermissen.
Und diese Generation hat eine weitere Generation geboren, groß gezogen und in die Welt entlassen.
Das sind die Menschen, die wir als verbittert, distanziert oder gar zu redselig betiteln.
Wir urteilen häufig und hinterfragen selten, das ist im schnelllebigen Alltag unumgänglich.
Doch sollten wir uns stets bewusst machen, dass jeder Mensch die ihm zur Verfügung stehenden Mittel nutzt, um sich an Extremsituationen anzupassen und Erfahrungen zu bewältigen. Wir werden nie erfahren, welche Erlebnisse unser Gegenüber geformt haben, aber wenn wir nachfragen, geben wir ihm die Chance, zu erzählen. Ohne diesen Raum gehen jene Geschichten verloren und kollektive Erinnerungen verblassen nach und nach. Jeder Mensch hat eine Geschichte und so besitzt jeder Mensch das Recht, die seine zu erzählen.
von Paula Hitzemann