Sex, Race, Gender, Religion: Nichts bleibt im neuen Buch “Identitti” von Mithu Sanyal unbesprochen – ebenso auf der Lesung im Foyer des Theater Bremens.
Das Foyer im Theater Bremen ist am 19. Januar trotz der hohen Inzidenzzahlen voll. Die Lesung von Mithu Sanyal war schon Wochen im Voraus ausverkauft. Jeder schön mit Abstand aufgereihte schwarze Stuhl ist besetzt, das Publikum trägt Maske und ist gespannt. Dann betritt die Autorin Mithu Sanyal mit den beiden Moderatorinnen Carla Bühl und Ragna Kühn die Bühne, die Zuschauer*innen klatschen, die drei Frauen setzen sich hin und ihre Maske ab.
Die Lesung ist Teil der 30. LiteraTour Nord. Sechs Autor*innen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur lesen aus ihren Neuerscheinungen in verschiedenen norddeutschen Städten. Die Lesungen werden von Dozent*innen moderiert, die jeweils ein Seminar anbieten, das die Lesungsreihe begleitet. Normalerweise werden die Veranstaltungen in Bremen deshalb von Professor Axel Dunker geleitet – in diesem Falle hat dieser aber zwei seiner Studentinnen der Germanistik den Vortritt gelassen. Denn da es das 30-jährige Jubiläum ist, kommt pro Stadt eine Debütantin dazu, diese werden von Studierenden befragt. Diese Lesungen sind so in zweifacher Hinsicht ein Debüt: Für die Autorinnen der erste veröffentlichte Roman, für die Studierenden die erste Moderation. Mit der Teilnahme an der LiteraTour Nord bewerben sich die Autor*innen auf einen Preis, der jährlich von der VGH Stiftung ausgelobt wird und mit 15.000 Euro dotiert ist. Dafür waren bereits seit Ende Oktober sieben verschiedene Autor*innen in Bremen, unter anderem Judith Hermann mit ihrem neuen Roman “Daheim” und Thomas Kunst mit dem Roman “Zandschower Klinken”. Beendet hat die Reihe am 23. Januar Raphaela Edelbauer mit ihrem Roman “Dave”.
Erfolg trotz anfänglicher Rückschläge
Das Thema dieser Lesung: das neue Buch “Identitti” von Mithu Sanyal, ihr erster Roman. Vorher hat sie ein paar Sachbücher, Kurzgeschichten, aber vor allem journalistische Stücke verfasst. Warum nun die Form des Romans? Das ist die erste Frage an die Autorin. Sie sagt, sie habe schon lange den Traum gehabt, einen Roman zu schreiben. Die Idee zum Buch habe sie auch schon lange mit sich getragen, nur wurde ihr immer wieder gespiegelt, dass es für solch eine Geschichte keinen Markt gebe. Welch ein Irrtum, denn inzwischen war der Roman auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises.
In dem Roman geht es um die Studentin Nivedita und ihrer Beziehung zu ihrem “mixed-race”-Sein und zu ihrer Professorin Saraswati. Damit ist allerdings nicht eine romantische Beziehung zwischen Studentin und Dozentin gemeint, obwohl die Sexualität von Nivedita im Roman auch eine große Rolle spielt. Der Fokus liegt auf einem anderen Aspekt der Beziehung, nämlich dass sie Postcolonial Studies doziert und Nivedita dadurch einen ganz neuen Zugang zur Welt verschafft. Denn wie der Titel es schon suggeriert, ist Nivedita auf einer Art Identitätssuche, die davon geprägt ist, dass ihr Vater aus Indien und ihre Mutter aus Polen kommt. “Spannende Kombination” musste sie sich ihr Leben lang anhören. Durch Seminare der Dozentin Saraswati fängt sie an, sich und ihre Erfahrungen besser zu verstehen und einordnen zu können. Die Professorin an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf ist selbst eine bekennende Person of Color: Weiße etwa werden gern mal aus ihren Seminaren verwiesen, um am eigenen Leib zu erfahren, was Rassismus und Ausgrenzung bedeutet. Doch dann kommt durch einen Skandal raus: Saraswati ist gar nicht PoC, sondern weiß und heißt eigentlich eigentlich Sarah Vera Thielmann.
“Das war mit die größte Herausforderung des Romans: Die Person Saraswati das ganze Buch über ambivalent zu halten”, sagt Autorin Sanyal. Denn trotz dieses Vertrauensbruchs entzieht sich Nivedita der Dozentin nicht komplett. Es beginnt ein Diskurs über Race, in dem auch immer wieder – ganz nach dem Gusto der Identitätspolitik – andere Aspekte einfließen: Sexismus, Gender, Class.
Identitätspolitik und wie sie funktioniert
Doch so richtig ist Race, Gender und Sexualität auch gar nicht auseinander zu halten, erklärt Sanyal während der Lesung. Und das tut sie auf eine niedrigschwellige, entspannte, ja fast witzige Art und Weise: Große Themen, wie Rassismus, Solidarität oder Sexualität, werden im Foyer in Bremen durch die Gespräche der Moderation mit der Autorin auf einmal greifbarer gemacht. Dennoch hat auch Sanyal nicht auf alle Fragen eine klare Antwort, oft fällt das Wort “Verhandlungsspielraum”, gerade in der jetzigen Zeit müsse man Begriffe, Umgangsformen und Grenzen immer wieder neu definieren und eben aushandeln. Ein Vorteil der Entwicklung der Diskussion um Rassismus und Identitätspolitik der letzten Jahre.
“Ich habe in meinem ersten Buch noch das Wort ‘Indianer’ benutzt, das würde ich jetzt nicht mehr tun. Selbst bei dem Begriff ‘Indigene’ wäre ich mittlerweile unsicher”, so Sanyal. Der Beweis für den wichtigen, nie abgeschlossenen Diskurs. So wirkt auch die Diskussion auf der Bühne: Gleichzeitig sind alle Fragen besprochen, alle Antworten gegeben, aber viele Fragen noch offen. Es fühlt sich so an, als biete Saynal eher Versöhnungsangebote als Erklärungen, als analysierte sie klug die Probleme, die es in der Gesellschaft gibt, ohne konkrete Lösungen zu geben oder Forderungen zu stellen. Am Ende der Lesung wird das Publikum durch die Möglichkeit, Fragen zu stellen, eingebunden. Es dauert eine Weile, ein paar peinlich berührte Lacher und überzeugende Worte der Moderation bis sich endlich eine Frage auftut. Nicht, weil Sanyal so einschüchternd ist – im Gegenteil. Sondern weil alle Themengebiete besprochen scheinen.
Ähnlich wie Sanyal bei der Lesung wirkt auch das Buch auf die Leser*innen: witzig, klug, informativ, herausfordernd, aber auch versöhnlich. Sowohl die Lektüre als auch die Autorin geben neue Einblicke in Erfahrungen einer Person of Colour, ohne den Finger zu maßregelnd zu heben und die Gesellschaft moralisch zu kategorisieren. Bitte mehr davon.
Das Buch “Identitti” von Mithu Sanyal ist im Hanser Verlag, München 2021 erschienen. Der Roman umfasst 432 Seiten und kostet 22 Euro. Mehr Infos zur LiteraTour Nord findet ihr online hier: https://www.literatournord.de/ .
von Frieda Ahrens