Noch liegt mehr als die Hälfte der Sommerferien in Bremen vor uns. Doch erneut lassen steigende Inzidenz-Zahlen und Virus-Mutationen das Fernweh in die Zukunft rücken. Für andere ist das Reisen jedoch viel mehr als nur gelebter Eskapismus im Kontext von „Carpe diem“. Für sie ist das Reisen die Existenz ihres Berufs.
Gerade noch bei einem Termin, sitzt er kurze Zeit später vor dem Bildschirm in seinem Wohnzimmer. „Als Freelancer ist man da ein bisschen aufgeschmissen. Man muss sofort darauf reagieren, wenn irgendwas kommt, dass man das dann abgreift. Sonst ist kein Geld da.“ Keine drei Minuten und wir sind mitten im Gespräch. Die Corona-Zeiten treffen jeden – Lockdown, Kurzarbeit und Home Office. Seit fast anderthalb Jahren träumen viele davon wieder in den Süden reisen zu können, Urlaub zu machen und Vitamin D zu tanken. Für Helmut Stapel ist das Reisen jedoch mehr als nur ein Sammeln schöner Erlebnisse.
Nach dem Abitur an der Abendschule begann Stapel sein Germanistik-Studium. Parallel arbeitete er bei der Lokalpresse als Mediengestalter bis er als freier Mitarbeiter in die Redaktion wechselte. Nach dem vierten Semester brach er die Uni ab und begann ein Volontariat bei der Nordsee-Zeitung. „Ich hatte keine Lust mehr schon wieder Die Leiden des jungen Werther von Goethe auseinander zu nehmen und die geschriebenen Dinge anderer Leute zu analysieren – ich wollte selber schreiben“, sagt Stapel.
Vom Triathlon zum Reisejournalismus
Das Schreiben von Reportagen, in denen Geschichten von Menschen erzählt werden, sei schon immer Seins gewesen, berichtet Stapel. Aber nur im Raum seiner Region pendeln, wollte er nicht. Er wollte raus – raus aus der Lokalredaktion in Norddeutschland und rein in die weite Welt, um neue Eindrücke von anderen Kulturen und fremden Menschen zu erleben. „Reportagen in Verbindung mit dem Reisejournalismus ist dann eine perfekte Mischung“, sagt Stapel. Sein erstes Ziel – Hawaii. Durch die Fernsehserie Magnum, die ihm zum Triathlon inspirierte, wollte er zu ihrer Geburtsstätte reisen und von dort berichten. „Ich war bis heute noch nicht auf Hawaii“, sagt Stapel und lacht. Statt 11.989 Kilometer Richtung Zentralpazifik über den Atlantischen Ozean und Nordamerika zu fliegen, ging der erste Flug in den Westen der USA, Nevada. In seinen Anfangsjahren als Reisejournalist musste Stapel darum bitten, mitreisen zu dürfen und sei mit Misstrauen beäugt worden. Heute erreichen seine Beiträge über Kanäle, wie ZEIT ONLINE oder GEO an die 40 Millionen Menschen.
„Da habe ich lange drüber nachgedacht“, sagt Stapel und atmet in einem Schub aus. Denn eine Reise, die ihm am stärksten in seinen Erinnerungen geblieben ist, gäbe es nicht. Jede einzelne habe seinen eigenen Reiz. In Kanada, Ontario wäre er um Haaresbreite verunglückt, als bei einem aufkommenden Sturm, das Kanu zu kippen drohte. Bei Windstärke elf und vier Grad Wassertemperatur hätte keiner das Kentern des Bootes überlebt. In den USA, Nevada besuchte er die Geisterstadt Gold Point. Auf nichts mehr als Menschenleere habe er geglaubt, zu treffen. Trotzdem überquerten Vietnam-Veteran Walt und Goldsucher Matt seinen Weg und erzählten von ihrem Leben in der Wüste. Und in den Vereinigten Arabischen Emiraten, Abu Dhabi beobachtete er um halb fünf Uhr morgens den Sonnenaufgang auf einer 250 Meter hohen Sanddüne in der Liwa Wüste. „Diese Stille, diese Weite, dieses absolute Nichts und man kann wirklich die Stille hören. Das ist schon beeindruckend“, sagt er und streift sich über die nackten Unterarme – allein bei dem Gedanken überkommt ihn ein Schauer Gänsehaut.
Ostfriesische Inseln statt Florida
Das Bild des Zoom-Calls erfriert und der Lautsprecher gibt nur noch Wortfetzen wieder – „Internetverbindung ist instabil“. Kurze Zeit darauf spricht Stapel von der chilenischen Felseninsel Kap Hoorn. „Und natürlich historische Orte, da wo Charles Darwin an Land gegangen ist, um seine Expedition zu starten. Wenn man am selben Ort steht, ist das schon ein irre Gefühl“, sagt Stapel.
Im besten Fall dauert die Organisation einer Reise, die in der Regel sieben bis acht Tage geht, ein Jahr. Von der Destination, dem Themen-Schwerpunkt, der Suche nach Interviewpartnern bis ihn zur Abfolge der Reiseroute und das Finden von Sponsoren. Dabei sei ein solcher Plan niemals vollkommen – ein Klassiker des Reisejournalismus. „Es geht immer was schief. Das muss man dann gerade biegen. Irgendwie.“
Frühjahr 2020 – als das Corona-Virus Wuhan fest im Griff hatte, war Helmut Stapel für drei Wochen in Florida, im Südosten der USA unterwegs. Eine Woche nach seiner Ankunft in Deutschland, explodierten die Inzidenz-Zahlen im Norden von Italien. „Seit März war ich nicht mehr weg. Das hat alles angehalten“, sagt Stapel. Der Reisejournalismus ist auf einem Mal zusammengebrochen. Statt über Florida Reportagen zu schreiben oder Rundfunkbeiträge zu produzieren, musste Stapel Alternativen suchen, um sich über Wasser halten zu können. Denn als selbstständiger Reisejournalist wurde er nicht von Förderungen des Staates unterstützt. Der Welt-Pendler kehrte in die Lokalredaktion zurück, arbeitete im PR-Bereich, hielt Online-Unterricht an Universitäten und nahm Aufträge für Moderationen an. Statt Reportagen über Auslandsreisen wurden Artikel über Reisetipps und Empfehlungen geschrieben – „Die schönsten Schlösser und Burgen in Deutschland“ oder „Die Top drei der Ostfriesischen Inseln“.
Die Zeit nutzen
Reise-Projekte, die für das Frühjahr 2021 geplant waren, wurden in die Zukunft verschoben. Statt die portugiesische Insel Madeira oder die Atlantikküste Frankreichs zu erkunden, wurden bereits produzierte Beiträge ge-relaunched. Die Produktion von Reisereportagen in Zeiten von Corona sei allein durch die Quarantänezeiten nicht umsetzbar. Jene Atmosphären würden von Infektionsängsten und OP-Masken überschattet werden. Grundsätzlich mache es keinen Sinn von einem Ziel zu berichten, wo man nicht hin kann. „Das kauft mir auch keiner ab“, sagt Stapel. Jetzt den Kopf in den Sand zu stecken, ist für Helmut Stapel jedoch keine Lösung. Er versinkt in Vorplanungen zukünftiger Reisen. „Nicht auf dem roten Sofa liegen und weinen, sondern tatsächlich überlegen, was die Strategie ist. Die Zeit, die man hat, nicht vertrödeln, sondern nutzen und sich vorbereiten, auf das was dann kommt.“
Auch wenn jetzt der Koffer in der Ecke liegt und zu einem Staubfänger mutiert ist, die Reiseausrüstung unberührt im Büro steht und ihm der Nervenkitzel des Reisens fehlt – Stapel lässt sich nicht entmutigen und blickt mit Zuversicht und Euphorie in die Zukunft. „Die Welt wird sich weiterdrehen“, sagt er mit Überzeugung. Die Branche wird weiterhin existieren und Trips quer über den Globus wieder möglich werden. „Die Prozeduren werden generalisiert und immer einfacher – ob Corona-Standards, Impfungen oder Schnelltest,“ Helmut Stapel ist sich sicher. Dann werden wieder Länder bereist und Reportagen, über neue Eindrücke, andere Kulturen und fremden Menschen geschrieben.
von Anne-Kathrin Oestmann