„Der König ist tot, lang lebe der König.“ Fernsehformate kommen und gehen in Wellen. Wenn ein Format gut funktioniert, wird die Kuh so lange gemolken, bis sie keine Milch mehr gibt. Das gab es früher schon bei Unterhaltungstalkshows – jetzt wird es Zeit, dass auch das Format Castingshow abtritt.
Aufstieg und Niedergang einiger Formate haben das schon mehrfach gezeigt: Selbst wenn alle Zuschauer ein Format bevorzugten, warum sollte man mit Konkurrenzprodukten auf allen Kanälen noch große Tagesgewinne einfahren können? Wenn alles beredet, alles verhandelt und alle familiären Probleme von Sozialarbeitern gelöst wurden, bleibt nur noch der Sprung zu etwas Neuem. Für alle Kritiker der Castingshows bleibt das Vertrauen in diese große Regel des Fernsehens, dass sich auch dieses Format nun selbst überholt. Die sinkenden Zuschauerzahlen der neuesten Staffeln verschiedenster Castingshows legen nahe, dass sich diese Ära nun tatsächlich ihrem Ende zuneigt. Zugegeben, es wäre vermessen, die Quoten der großen Castingshows als wirklich schlecht zu bezeichnen, liegen sie doch überwiegend weiterhin über dem Senderdurchschnitt. Dennoch zeichnet sich bei genauerer Betrachtung ein Abwärtstrend ab; die aktuellen Sendungen sind nur noch Schatten ihres erfolgreichen Selbst.
Deutschland findet einfach keinen Superstar
Deutschland sucht den Superstar (‘DSDS’) kann nun schon auf zehn Jahre Leid für Augen und Ohren zurückblicken und selbst unter den treuesten Zuschauern wären wohl nur wenige in der Lage, alle neun Sieger der Vergangenheit aufzuzählen. Für die aktuelle Staffel wurde vieles überarbeitet – eine neue Ära läutet man damit trotzdem nicht ein. Die zwei neuen Moderatoren fallen kaum auf; lediglich die fast völlig neue Jury neben DSDS-Veteran Dieter Bohlen bringt mit den Kaulitz-Zwillingen von Tokio Hotel ein bisschen prominenten Glanz in die sonst so fade Sendung. Wenn der vierte im Jury-Bunde, Mateo (Culcha Candela) Deutschland sucht den Superstar also als „die Mutter der Unterhaltungsshows“ bezeichnet, dann ist das deutsche Fernsehen heute noch schlechter als zu jenem Zeitpunkt, da Marcel Reich-Ranicki im Jahr 2008 den Deutschen Fernsehpreis für sein Lebenswerk ablehnte. Kein Wunder also, dass die Zuschauerzahlen kontinuierlich sinken. Wenn der Zuschauerrückgang weiter anhält, wäre sogar der Senderdurchschnitt auf einem absteigenden Ast.
Ähnliches gilt auch für die Schwestersendung Das Supertalent. Hier hat sich RTL in der letzten Staffel Thomas Gottschalk in die Jury und damit etwas humanere Umgangsformen in die Sendung geholt – gegen den Quotenabsturz geholfen hat es nicht. Auch hier fährt RTL zwar häufig noch Tagessiege in der Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen ein; mit dem kontinuierlichen Rückgang der Zuschauerzahlen, dürften die Macher jedoch trotzdem nicht zufrieden sein. Die letzte Staffel sahen im Schnitt noch 5,03 Millionen Zuschauer, 2011 waren es dagegen noch 6,63 Millionen. Verglichen mit früheren Zuschauerbestzahlen von circa 8 Millionen und dem daraus resultierenden, rasanten Rückgang müssen sich die Verantwortlichen bald die Frage stellen, ob man das sinkende Schiff demnächst nicht doch verlassen sollte.
Dass nun die Zeit für Neues gekommen ist, bestätigte kürzlich RTL-Unterhaltungschef Tom Sänger gegenüber dem Medienmagazin DWDL.de: „Es gibt keinen Grund, bekannte, wenn auch weiterentwickelte Formate, mit denen wir ganz offensichtlich den Nerv der Zuschauer treffen, gegen komplett Neues zu tauschen. […] Allerdings kommen auch diese Formate mal in die Jahre, so wie jetzt.”
Germany’s next laufender Kleiderhaken
Auch für ProSieben läuft es im Bereich Castingshow nicht mehr so gut wie früher. Die letzte Staffel von Germany’s Next Topmodel war so schwach wie nie zuvor. 2012 fielen die Zuschauerzahlen nach dem erfolgreichen Staffelstart rasant, eine Erholung gab es erst wieder kurz vor Ende der Staffel. Auch wenn man mit dem Staffelfinale wieder deutlich erfolgreicher war, so wenig Zuschauer hatte auch noch keine Finalshow. Generell konnte man bei ProSieben noch mit den Zahlen zufrieden sein, aber im Vergleich mit vorangegangenen Staffeln ist doch ein deutlicher Abwärtstrend erkennbar. Kein Wunder also, dass man bereits vor einem Jahr über das Ende von Germany’s Next TopModel spekuliert hat. Stattdessen hat man sich nun dazu entschlossen, die neuste Staffel von der hauseigenen Produktionsgesellschaft RedSeven produzieren zu lassen.
Der Staffelauftakt war mit gerade einmal 16,5 % Marktanteil für ProSieben zwar noch zufriedenstellen, dennoch aber der schlechteste Auftakt der Model-Castingshow seit ihrem Start 2006. Auch aktuell sieht es nicht besser aus: Zuletzt (5. April) konnte man sogar nur noch 12,9 % der werberelevanten Zielgruppe vor den Fernseher locken. Germany’s Next Topmodel läuft dieses Jahr unter dem Motto „Closer than ever“. Qualität und Message der Sendung waren ohnehin immer strittig, aber so „close“ wie jetzt sollte man wirklich keine der in jeder Hinsicht fragilen Minderjährigen ohne ihre Erziehungsberechtigten vor die Kamera stellen.
Auf der Suche nach dem gewissen Etwas
Das Konzept von X-Factor war in England lange erfolgreich, konnte bei VOX aber nie wirklich Fuß fassen – dennoch lagen die Zuschauerzahlen in den ersten beiden Staffeln zumindest über dem Senderdurchschnitt. Mit der letzten, dritten Staffel gingen die Zuschauerzahlen jedoch deutlich zurück. Auch wenn VOX das Konzept noch nicht ganz abgeschrieben hat, würden die Macher bei einer Neuauflage auf die einzige Konstante in der Jurybesetzung und damit prominentestes Gesicht der Show verzichten müssen: Sarah Connor sagte gegenüber BILD am Sonntag, 2013 werde sie nicht mehr für X-Factor zur Verfügung stehen: „2013 steht meine Musik wieder an erster Stelle.“ Auch wenn sie beteuert, dass ihr Abschied von X-Factor nichts mit den zuletzt schwachen Quoten zu tun habe, so sieht sie doch auch „eine allgemeine Übersättigung dieser Shows.“ So dass sich das Format Castingshow neu erfinden müsse.
Das Castingshow-Sterben ist kein ausschließlich deutsches Phänomen
Auch in England, der Geburtstätte der Castingshow, so der englische Guardian, zeigt sich ein ähnlicher Trend: Hier hat man über Jahre hinweg mit X-Factor und Britain’s Got Talent große Erfolge feiern und – im Gegensatz zu deutschen Castingshows – weltweit erfolgreiche Talente hervorbringen können, darunter Leona Lewis (X-Factor 2006), One Direction (X-Factor 2010) und Paul Potts (Britain’s Got Talent 2007). Doch die letzte Staffel von X-Factor (Winter 2012) war seit ihrem Start 2006 nicht mehr so schlecht wie zuletzt. Und auch The Voice UK musste einen massiven Zuschauerrückgang hinnehmen. Langsam aber stetig manifestiert sich eine deutliche Ablehnung gegen das Format.
Wie oft kann man jedes Jahr aufs neue und auf fast allen Kanälen einen Superstar, ein Supertalent, ein Topmodel, The Voice oder SängerInnen mit dem X-Factor oder jemand anderes mit irgendetwas scheinbar Besonderem suchen? Eigentlich ist es doch ein bemerkenswertes sowie verstörendes Zeichen für eine Gesellschaft, wenn jeder meint, etwas Besonderes oder gar Besseres zu sein. Mit zunehmender Fokussierung auf die Individualität verschwinden gemeinschaftliche Werte wie Solidarität und Mitgefühl. Im Gegensatz zu den damaligen Laien-, aber immerhin erkennbaren Schauspielern in den Talkshows, wird bei den Castingshows mit den fragilen Träumen noch fragilerer Persönlichkeiten gespielt.
Ob nun aus Langeweile über das Austauschbare oder einen neu entdeckten Sinn für humane Umgangsformen, durch die Fernsehquoten haben Zuschauer tatsächlich einen Einfluss auf das Fernsehprogramm. Das Ende der Ära Castingshow hat nun begonnen – es wurde aber auch wirklich Zeit.
Annika Mahr