Nachtzüge sind wieder im Trend, das belegen aktuelle Zahlen. Wie fühlt es sich also an, auf diese Art durch Europa zu reisen? Ein persönlicher Erfahrungsbericht über „Flugscham“, Entschleunigung und die Angst vor der Schlaflosigkeit.
21:57 Uhr. Ich stehe am Hauptbahnhof in Hannover und steige in den Abteilwagen Nr. 261, der Hinterste. Von Bremen habe ich es bereits bis hier her geschafft, trotz Ausfall des Regionalzuges. Nun bin ich also drin: im 6er-Abteil, Liegeplatz Nr. 42 (unten). Besonders laut darf ich nicht sein. Die Person über mir schläft bereits. Nach kurzem Small-Talk-Geflüster mit einem weiteren Nachtzug-Passagier öffnet sich die Schiebetür. Ich zücke mein Ticket. „Kaffee oder Tee zum Frühstück?“ – „Kaffee!“, antworte ich prompt und natürlich unüberlegt laut. „Kaffee…, bitte“, flüstere ich noch ein zweites Mal hinterher. Mir wird eine Decke mit Kissen gereicht. Ich verstaue meinen Rucksack unter mir, befreie meine Füße vom Schuhwerk und lege mich hin. Beim Blick aus dem Fenster scheint sich der nächtliche Bahnhof langsam zu bewegen und vom Zug zu entfernen. Oder andersherum.
Noch 10 ½ Stunden. Schlafen? Ne, noch nicht. Drei Bücher und eine Zeitschrift habe ich dabei. Durchaus ambitioniert, aber man weiß ja nie. Besser so rum als „Hätte ich doch… mitgenommen“. Hauptsache die Auswahl haben, das beschreibt wohl auch ein wenig unseren gegenwärtigen Zeitgeist. Am Ende starre ich wahrscheinlich eh die meiste Zeit auf’s Smartphone. Ich öffne ein kürzlich, extra für die Fahrt erworbenes Brezelgebäck – Geschmack: Honey-Mustard-Onion – mit bei Amazon beachtlichen 4 ½ Sternen von 5 und ganzen 157, überwiegend positiven customer reviews. Nach zwei Griffen in die Tüte, die „wahren Knabberspaß“ verspricht und sich weiter als „Kult-Knabberei für Megastimmung“ titelt, stelle ich allerdings fest, dass die Kombination aus Greifen und Kauen durchaus Einfluss auf die Nachtruhe anderer Mitreisender haben könnte. So lege ich die Tüte also wieder weg. Anstelle nehme ich eines der Bücher zur Hand. Nach zwei Seiten und ein paar Zeilen erlöscht das Abteil-Licht. Na dann, gute Nacht.
Schlaflosigkeit? …und der unsichtbare Passagier
„Ich mag die Nacht, weil sie dir das Gefühl gibt, vollkommen alleine auf der Welt zu sein. Und wenn alle Menschen schlafen, spürst du ihre Anwesenheit“, sagte jüngst die dänische Sängerin Agnes Obel, deren Stücke sich vor allem durch mystische Klavierakkorde auszeichnen. Ihre neue Single, „Broken Sleep“, schmückt meine extra angelegte Nachtzug-Spotify-Playlist. Der Titel passt tatsächlich unbeabsichtigt gut zu meiner größten Befürchtung vor der Reise, das nicht Einschlafen können. Ich spreche da nämlich aus Erfahrung – einer mit Seegang um genau zu sein. Mit einer Fähre bin ich vor ein paar Jahren einst über Nacht von Oslo nach Kopenhagen gefahren, geschlafen hatte ich in dieser allerdings (und das natürlich unfreiwillig) keine fünf Minuten.
Ich skippe „Everything in It’s Right Place“ von Radiohead und höre Ludovico Einaudi’s „Night“. Es ist kurz vor Mitternacht. Vielleicht sollte ich nun doch langsam die Überlegung anstellen ins Reich der Träume zu flüchten, um am nächsten Morgen, den Umständen entsprechend, ausgeschlafen in einer anderen Stadt, in einem anderen Land aufzuwachen. Natürlich bin ich diesmal besser vorbereitet: Ein Hörspiel, „Die drei ???“ sollen aushelfen – Folge 189: „und der unsichtbare Passagier“. Ich schließe die Augen. Nach einer guten Stunde ist, Spoilerwarnung, der Fall tatsächlich gelöst… und ich bin, außerplanmäßig, noch wach. Als ich mich kurz darauf zur anderen Seite drehe, die Kopfhörer ablege und durch Ohrstöpsel ersetze klopft es plötzlich an der Abteiltür: „Frühstück in 15 Minuten!“. Es ist früh morgens. Ich habe tatsächlich geschlafen.
Kaffee und Brötchen zum Frühstück
Die deutsch-österreichische Grenze ist schon lange überquert. Für einen Moment blicke ich aus dem Fenster und beobachte die verregnete, vor-wienerische Landschaft in der Morgendämmerung. Die beiden mittleren Liegen werden hochgeklappt. Nun sitze ich auf einmal aufrecht, zusammen mit meinen Abteil-Nachtgefährten, die ich alle nicht kenne. Stille. Habe ich geschnarcht? (Ich gehe davon aus). Ich blicke also lieber herunter auf mein Tablett: 2 Brötchen, To-Go-Kaffee, Kondensmilch (11,6 ml), ein Zuckerstick, Premium Teebutter (10 g, streichzart) und ein Marillen-Fruchtaufstrich (25 g, passiert).
Als sich die erste Hälfte eines meiner Brötchen von Mundhöhle in Richtung Magen bewegt, bricht dann kurz darauf eine etwa 40-jährige Ungarin neben mir das Schweigen, die sich, beim Scrollen durch Schlagzeilen, mächtig über das schlechte Bildungssystem in ihrem Land aufregt. Wahrscheinlich zu Recht. Vielleicht habe ich ja doch nicht geschnarcht. Nach der zweiten Brötchenhälfte, den letzten Schlückchen Kaffee und ein wenig Plauderei mit anderen Passagieren ist plötzlich ein Bremsen zu vernehmen. Ich schaue also erneut aus dem Fenster des Zuges: Wien Hauptbahnhof.
„Flygskam“ und die Deutsche Bahn
Vor drei Jahren fiel zum ersten Mal das Wort „Flugscham“, ein Neologismus aus dem schwedischen „flygskam“. Auch vor drei Jahren strich, die Deutsche Bahn ihr Nachtzug-Angebot komplett und vermachte die etwa 40 Jahre alten Schlaf- und Liegewagen den Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB), die ihre Nachtzüge nun durch Deutschland, Italien, die Schweiz und Österreich fahren lassen. Mit Blick auf die Klimabilanz und der damit einhergehenden (möglichen) Empfindung, sich wegen seiner Flugreisen zu schämen, scheint die Deutsche Bahn hier also die Renaissance eines Trends, im wahrsten Sinne, verschlafen zu haben: „Die Leute fahren wieder Nachtzüge. Wir verzeichnen Steigerungen im letzten Jahr von 10 bis 15 Prozent“, sagt etwa Bernhard Rieder, Sprecher des ÖBB, kürzlich in einem Beitrag des NDR (https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/weltbilder/Oesterreich-Renaissance-der-Nachtzuege,weltbilder7834.html). Und das vor allem bei den teuersten Kabinen.
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Ach ja, und da wäre ja noch so ein Trend: Entschleunigung. Der Beschleunigung irgendwie entgegenwirken. Da helfen nicht unbedingt immer die neusten Apps der Zeitsparkasse oder die Sieben-Tipps-Ratgeber-Artikel, durch die man endlich wieder zur Ruhe und natürlich zu sich selbst findet und so. Vielleicht aber ja eine Fahrt im Nachtzug. Wie sagt man noch? Das Ziel ist der Weg? Irgendwie sowas. Nach meinem Aufenthalt in Wien steige ich also wieder ein. Diesmal die günstigste Sitzplatz-Variante. Ich teile mir das 6er-Abteil mit einem sympathischen, 22-jährigen Afghanen, der einen Freund in Hamburg besuchen möchte und mir direkt Weintrauben und eine Red Bull Energy Dose anbietet. Letztere lehne ich dankend ab. Seine Mutter ist in Kabul, er erst seit neun Monaten in Österreich und spricht fließend Deutsch. Sollte ich kurz vor Hannover noch schlafen – meine Befürchtung – würde er mich rechtzeitig wecken.
„Vergleiche anzustellen ist ein gutes Mittel, sich sein Glück zu vermiesen“, lese ich noch im Buch, klappe dies zu und schlafe besser als auf der Hinfahrt – habe ja auch drei Sitze, obwohl ich für nur einen bezahlt habe. Klar, ein Flug wäre schneller und billiger. Und nein, ich schwinge auch ohne Flugangst nun nicht die große CO2-Moralkeule. Was zählt ist letztlich nicht unbedingt die CO2-Ersparnis – aber ganze 369,7 kg für hin und zurück! – nicht schlecht, oder? Was zählt ist das Gefühl für Zeit und Distanz und sind manchmal auch die kleinen Begegnungen mit Menschen, die man sonst so nie getroffen hätte.