Cafés, Secondhand Shops und Bars sind schön. Aber sollten diese Orte wirklich den Charakter eines öffentlichen Ortes ausmachen – vor allem in Zeiten, in denen ein Kaffee 4,50 Euro kostet? Ein ambitionierter Unternehmer zeigt, wie es gehen könnte.
von Alec Gosewisch
Es ist ein frostiger Tag in der Bremer Neustadt. Die Mischung aus Alt- und Neubauten scheint bei den eisigen Temperaturen noch etwas enger zusammenzurücken. Es sind noch einige Menschen unterwegs. Unterwegs nach Hause, nicht zum Verweilen am Neuen Markt. Der gepflasterte Platz ist belebt und tot – wie ein Umstiegsbahnhof, der immer voll ist, aber nicht zum Bleiben einlädt.
Der Neue Markt liegt sehr zentral, aber „auf der falschen Weserseite“, wie es viele Bremer:innen sagen würden – in der Neustadt. Die gleichnamige Haltestelle ist hoch frequentiert, Weser und Südwallanlagen sind nicht weit, genau wie die Hochschule. Auch zum Werdersee braucht man mit dem Fahrrad nur wenige Minuten. Hier könnte richtig viel los sein, so ist es aber nicht.
Mit seinem Fahrrad kommt Andreas Friedrich angefahren und stellt es an den Fahrradständern vor dem Defibrillator ab. Der Defibrillator ist ein trendiger Second-Hand Shop direkt am Neuen Markt. Friedrich ist der Geschäftsführer. In einer Ecke zwischen gemusterten Strickpullovern, Diskokugeln und eingesessenen Vintage-Sesseln erzählt er, dass die Geschichte des Ladens mit der Gründung seiner Bar zusammenhängt. Die Drittel Bar liegt nur wenige Meter entfernt vom Defibrillator.

Andreas Friedrich, Geschäftsführer der DreiDrittel GmbH, betreibt am Neuen Markt den Defibrillator und die Drittel Bar.
Schon bevor er aus der Heimat Würzburg nach Bremen gezogen ist, hat Friedrich ein Unternehmen gegründet. Als er dann in Bremen sein Studium anfing stellte er fest: „Ich mag Bremen voll gerne, ich brauche eine neue Beschäftigung.“ Daraus entstand die Drittel Bar. Der Defibrillator ist dann aus der Not der Corona-Krise entsprungen. Gastronomie durfte nicht aufmachen, eine neue Idee musste her. Die Bar wurde im Inneren zu einem Second-Hand Shop. Die Außenbestuhlung konnte weiter für den Barbetrieb genutzt werden. Das lief so gut, dass wenig später der Defibrillator einen eigenen Standort bekam – genauso wie das Drittel, direkt am Neuen Markt.
Eine Bar und ein Second-Hand Shop, nebenan ein Restaurant und ein Friseur. Das sind alles wirtschaftliche Betriebe, die die Hauptakteur:innen bei der Gestaltung des Neuen Marktes sind. Auf der Hand liegt: Wenn öffentliche Räume kommerzialisiert werden, schließen sie Menschen aus, die sich Teilhabe in Form von Konsum nicht leisten können. Kann es dann richtig sein, wenn ihnen bei der Gestaltung dieses Raumes eine so bedeutende Rolle zukommt?

Der Defibrillator belebt nicht nur alte Kleidung wieder, sondern auch ein wenig den Neuen Markt.

Die Drittel-Bar ist zentraler Anlaufort am Neuen Markt.
Das liebe Geld
Johannes Overkamp ist Beiratssprecher der Bremer Neustadt. Der Grünen-Politiker ist bereits in seiner dritten Beiratsperiode. Er ist der Meinung, dass öffentliche Räume Menschen nicht wegen Geldmangels ausschließen dürfen: „Es wäre schön, wenn man den Platz belebt und das nicht nur dazu dient, Geld zu generieren oder auszugeben.“
Overkamp hatte selbst Ambitionen, aus der Politik heraus öffentliche Orte zu gestalten: „Als ich im Beirat angefangen habe, hatte ich noch hochtrabende Pläne, was man alles gestalten könnte. Meiner Wahrnehmung nach ist das häufig gut gewollt, aber weniger gut gemacht.“ Die Politik zieht sich also aus dem öffentlichen Raum zurück zugunsten anderer Akteur:innen. Demnach sei die nachhaltigste Art und Weise, öffentliche Räume zu gestalten, wenn Ideen aus Eigeninitiative der Bevölkerung kommen: „Oktroyierte Gestaltung klappt meiner Meinung nach nie.“ Zwangsläufig stellt sich die Frage, ob es nicht trotzdem die Aufgabe der Politik ist, diese Orte lebenswert zu gestalten – ganz nach dem Grundsatz: Öffentliche Räume sind Aufgaben der öffentlichen Hand.

Johannes Overkamp ist Beiratssprecher der Bremer Neustadt und vertraut bei der Gestaltung öffentlicher Räume privaten Akteur:innen.
Ein U-Bahn-Wagon für den Neuen Markt
„Ich finde, der Neue Markt könnte mehr genutzt werden, mehr belebt werden. Da könnten mehr Sachen stattfinden“, erzählt Friedrich. Um dieser Vision näher zu kommen plant er ein neues Projekt für den Neuen Markt: Auf dem Marktplatz soll ein alter U-Bahn-Wagon als sozio-kultureller Kulturkiosk genutzt werden. Zwar ist der Plan noch in einer frühen Phase, aber erste Pfeiler stehen bereits: Ein alter U-Bahn-Wagon der Münchner Verkehrsbetriebe soll mittels Schwertransport nach Bremen gebracht werden. Der Wagon wird dann umgebaut und mit Außenbestuhlung auf dem Neuen Markt platziert. „Die Idee war, dass das so spannend ist, dass auch Leute aus der Innenstadt hierherkommen“, sagt Friedrich im Hinblick auf die kommenden Veränderungen.
Das wäre genau die Gestaltung von unten, die Beiratssprecher Overkamp für besonders nachhaltig hält, denn der U-Bahn-Wagon sei mit vielen Interessen in Einklang zu bringen. Friedrich führt aus: „Diese U-Bahn soll ein Gemeinschaftsort werden, ein soziokultureller Mini-Ort, an dem verschiedene Sachen stattfinden können. Ich fände es schön, wenn dieser Ort dann auch mehreren Leuten gehört.“

Erste Konzeptgrafiken zeichnen bereits ein lebendiges Bild: Zwischen Bahnstation und vollen Fahrradständern, Defibrillator und Drittel entsteht ein quirliger Ort, an dem sich Jung und Alt treffen. Hier soll es Kulturangebote, Gastronomie und einfach einen Raum zum Verweilen und Austauschen geben. Klingt fast nach Utopie. Es bleibt fraglich, ob der Zugang wirklich frei ist, oder er für die Öffentlichkeit nicht prinzipiell, aber de facto auf zumindest einen Kaffee oder ein Stück Kuchen beschränkt bleibt – anders gefragt: Fühle ich mich trotzdem willkommen, obwohl ich an diesem öffentlichen Platz kein Geld ausgeben will?
Rote Linien
Friedrich ist sich sicher: „Das ist eine unternehmungskulturelle Frage.“ Wer eine inklusive Unternehmenskultur lebe, schaffe Räume, die keinen Konsumzwang erzeugen. Schaut man sich im Defi um, gibt es nicht nur Kleidung mit Preisschildern. Eine Videospiel-Ecke und ein Schachtisch sind genauso Teil des Stores. Im Sommer stellt der Defi auf dem Neuen Markt eine Tischtennisplatte zur Verfügung, die von allen genutzt werden kann. Friedrich erzählt von Menschen, die nur zum Schachspielen in seinen Laden kommen. Eine ähnliche Kultur solle auch am neuen U-Bahn-Wagon gepflegt werden: „Wenn wir die blöd angucken würden, dann würden die das auch nicht machen.“
Overkamp setzt klare Grenzen bei Projekten zur öffentlichen Raumnutzung, die von der Neustädter Politik gefördert werden sollten: „Meine persönliche Bedingung für eine Förderung wäre, dass es keinen Konsumzwang geben darf.“ Er setzt auf Vertrauen, wenn es darum geht, die Gestaltung öffentlichen Raums an private Akteure zu verteilen. Dieses Vertrauen hat er in Andreas Friedrich und die anderen Akteure am Neuen Markt gefasst. Auch aus einer Notwendigkeit heraus: „Darum glaube ich, dass insbesondere in einer Stadt wie Bremen, die kurz vor der Insolvenz steht, öffentliche Raumgestaltung nur zusammen mit privaten Akteuren geht.“

Das Land Bremen versucht mit verschiedenen Initiativen und Thinktanks den öffentlichen Raum nachhaltig lebenswerter zu gestalten. Zum Beispiel durch das Projektbüro Innenstadt Bremen, das mit der Plattform binnenstadt.de Akteur:innen im öffentlichen Raum zusammenbringt. Das Projektbüro Innenstadt sagt hierzu: „Wir arbeiten horizontal zu den etablierten Disziplinen und Perspektiven, auch mit privatwirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Gruppen.“
Obwohl dieser Ansatz mit seiner Vision von Raumgestaltung Hand in Hand geht, sieht Overkamp solche Initiativen nicht unbedingt als schlecht an, aber kritisiert ihre Wirksamkeit: „Es gibt ein Innenstadtbüro, es gibt runde Tische und Gespräche über die Verbesserung der Innenstadt. Das hat nicht dazu geführt, dass die Situation heute eine bessere ist als vor zehn Jahren.“ Er plädiert für kleinere, konzentrierte Projekte, die von einzelnen Akteur:innen gestemmt werden können.
Friedrich sieht seine Ideen, insbesondere den geplanten U-Bahn-Wagon, als Angebot an die Stadtteilgemeinschaft: „Wenn alle Leute, die hier wohnen, sagen, dass das voll die Scheißidee ist, dann will ich das auch nicht machen.“ Das scheint nicht der Fall zu sein. Erste Stimmen zu Friedrichs Plänen am Neuen Markt sind positiv, Bürger:innendialoge stehen laut Overkamp noch aus. Auch er ist überzeugt: „Ich finde die Idee, einen U-Bahn-Wagon als Kulturkiosk zu nutzen, die mit Abstand vielversprechendste Idee der letzten 10 Jahre, was ein Beleben des Marktes angeht.“
Andere Wege für den öffentlichen Raum
Gleich um die Ecke, nur etwa 3 Minuten zu Fuß entfernt, liegt der Lucie-Flechtmann-Platz. Anders als der Neue Markt ist hier ein großer Teil der ehemals versiegelten Fläche mit Beeten, Äckern und Wildpflanzen bewachsen. Bunte Container und ein Turm mit Blick über den Platz säumen ihn. Die verwinkelten Wege durch die bepflanzten Flächen laden zum Spazieren ein. Für die Gestaltung der „Lucie“ – wie der Platz genannt wird, ist der KulturPflanzen e.V. zuständig. Dort macht Christiane einen Bundesfreiwilligendienst. Sie ist für verschiedenste Dinge zuständig, wie die Organisation von Veranstaltungen.
Seit 2013 nutzt der Verein den Platz als einen Ort der Begegnung für Kultur- und Gartenfreund:innen. Hier finden regelmäßig Flohmärkte, Feste, Kinoabende und sogar Tanzkurse statt. Wer möchte, kann bei der Organisation der Veranstaltungen helfen oder auch bei der Begrünung der Lucie. Der Platz stand zehn Jahre leer. Im Jahr 2003 wurde er als Ausgleichsfläche hergestellt und blieb ungenutzt, bis die Fläche dann bepflanzt wurde.

Christiane geht durch die vielen Beete der Lucie und kann zu jedem eine Geschichte erzählen: „Der Hügel da drüben ist am neuesten, den haben wir erst vor wenigen Jahren aufgeschüttet.“ Nicht nur sie scheint ein Fan des Projektes zu sein. Bei Veranstaltungen unterstützen benachbarte Firmen mit Stromanschlüssen, das nahegelegene Senior:innenheim hat eigene Hochbeete und nutzt die Fläche zum Spazieren. Der Platz darf und soll von allen genutzt werden – unabhängig davon, wie viel Geld im Portmonee ist. Selbst beim Flohmarkt ist die Standgebühr ein mitgebrachter Kuchen. Wer nicht zahlen kann, muss das auch nicht.
Die Lucies, wie sich die Ehrenamtlichen selbst nennen, haben einen Raum geschaffen, der wirklich frei von Konsumzwang und für alle zugänglich ist. Nur unweit vom Neuen Markt wird hier öffentlicher Raum gestaltet, ohne dabei monetäre Barrieren zu schaffen und auf privatwirtschaftliche Akteur:innen zu setzen. Hier gibt es keine GmbH, nur einen Verein. Auf die Frage, ob die Politik nicht die Aufgabe, öffentlichen Raum zu gestalten, auf die Zivilgesellschaft abschiebt, sagt Christiane: „Ich sehe das als Zurückerobern der öffentlichen Räume, die wir wieder selbst bestimmen können.“

Christiane macht ihr BFD beim Verein KulturPflanzen e.V.
Ein Balance-Akt
Mit Defi, Drittel und Co. wird Geld verdient, aber auch gleichzeitig Kulturangebote geschaffen. Die Politik macht sich hier von privaten Akteur:innen abhängig, aber Overkamp ist überzeugt: „Ich bin lieber in einer Abhängigkeit von einem Akteur, der zwar ein deutliches wirtschaftliches Interesse hat, aber zumindest in der Kommunikation nach außen und auch in der privaten Kommunikation ein großes Interesse daran hat, einen jetzt sehr stillen Platz als lebendigen sozialen Ort zu gestalten.“
Friedrich hat seinen Kaffee ausgetrunken und lehnt sich in den Vintage-Sessel. Der Defi leert sich langsam und der Neue Markt wird noch ruhiger, wenn die Sonne untergeht. Friedrich möchte sich nicht für immer dem Neuen Markt widmen, aber einen Raum schaffen, den andere weiter bespielen können. Mit Blick auf die falsche Weserseite sagt er: „Ich wünsche mir, dass Leute irgendwann mal sagen, dass sie in die Neustadt gehen, ohne gefragt zu werden, wohin sie gehen.“ Friedrich will also der Neustadt eine klare Identität geben, eine Anlaufstelle, um dort tatsächlich Zeit zu verbringen, ohne verwunderte Nachfragen, was man denn dort mache. Aber wie soll das aussehen? „Ich wünsche mir, dass da eine kritische Masse entsteht von attraktiven Angeboten.“ Er sei sich bewusst, dass Anwohner:innen das falsch auffassen könnten und alles beim Alten belassen wollen. Seine Vision ist aber kein zweites Viertel: „Das muss nicht nur Gastro sein, das können auch kleine Handwerksläden sein, ein Gemeinschaftszentrum, Galerien, Workshopflächen.“
Ob am Neuen Markt zukünftig alle einen Platz finden, hängt maßgeblich von den Akteur:innen ab, die ihn gestalten. Am Ende ist die Frage, wie wir öffentliche Räume nutzen wollen, eine gesellschaftspolitische. Der öffentliche Raum kann von allen gestaltet werden – von Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Das zeigt Andreas Friedrich genauso gut wie die Lucies. Im Zweifel braucht es nur ein paar Motivierte, die die Sache öffentlicher Raum selbst in die Hand nehmen. Welche Akteur:innen dabei eine Rolle spielen sollten, ist eine Frage der Zielsetzung und vor allem davon abhängig, mit welcher Vision wir diesen Raum angehen wollen.