Seit sechs Jahren entwickelt die chinesische Regierung ein Punktesystem, das Chinas Bürger bewerten soll. Das globale Medienecho ist groß, konkrete Informationen sind allerdings rar. Wir erklären genauer, wie das Sozialkredit-System funktioniert.
Noch schnell bei Rot über die Ampel zu gehen, kann in China ernstzunehmende Folgen haben. In Peking, Shanghai und vielen anderen chinesischen Städten werden Straßenkreuzungen von intelligenten Kameras überwacht. Eine Gesichtserkennungssoftware identifiziert diejenigen, die über Rot gehen. Später erscheinen ihre Gesichter, Namen und Anschriften auf einem Bildschirm nahe der Kreuzung, öffentlich sichtbar für jeden, der vorbeikommt. Manchmal würden sogar ihre Arbeitgeber informiert, heißt es in einem Bericht der Süddeutschen Zeitung.
Das Ignorieren einer roten Ampel kann sich auch negativ auf den Punktekontostand im Sozialkredit-System auswirken. Im Bezirk Suining kostet das Überfahren einer roten Ampel beispielsweise 50 Minuspunkte. Mass Credit heißt Suinings kommunales Sozialkredit-System, das 2010 als eines der ersten Pilotprojekte an den Start ging. Bürger dürfen frei entscheiden, ob sie sich von dem System bewerten lassen möchten. Bereits 2014 nutzten 85% der Einwohner das Bewertungssystem, heißt es in einer Studie der China-Wissenschaftlerin Marianne von Blomberg von der Universität zu Köln.
Die Punkteskala von Mass Credit reicht von 0 bis 1000. Mit 1000 Punkten befindet man sich in der bestmöglichen Kategorie A. Mit unter 599 Punkten gehört man zur schlechtesten Kategorie D. Wer sich in einer guten Kategorie befindet, darf sich über Vergünstigungen und Privilegien freuen. Kredite zu günstigen Konditionen, eine Bevorzugung bei öffentlichen Dienstleistungen, ein Stipendium. Wer hingegen einer schlechten Kategorie zugeordnet wird, hat mit negativen Konsequenzen zu rechnen. Die Ablehnung eines Kredits, die Streichung von Sozialhilfen.
Ein einheitliches Sozialkredit-System gibt es noch nicht
Wer von dem Sozialkredit-System spricht, liegt strenggenommen falsch. Vielmehr handelt es sich um ein weitflächiges Netzwerk verschiedener Bewertungssysteme, die sich größtenteils noch in der Experimentalphase befinden. Die Forscherin Antonia Hmaidi vom Lehrstuhl für Ostasienwissenschaften an der Universität Duisburg-Essen spricht im Jahr 2018 bereits von über 70 verschiedenen Pilotprojekten in ganz China. Obwohl die Systeme sich teils stark voneinander unterscheiden, ist das Prinzip immer dasselbe: das Sozialkredit-System greift auf sogenannte Big Data zurück, riesige Datenmengen, die aus öffentlichen und privaten Datenbanken stammen. Jeder Bürger erhält ein Punktekonto, in das alle gesammelten Daten über ihn einfließen. Je „vertrauenswürdiger“ eine Person ist, desto höher ist ihr Punktestand. Ein hoher Punktestand wird belohnt, ein niedriger bestraft. Seit 2014 plant die Kommunistische Partei Chinas die Einführung eines landesweiten Sozialkredit-Systems. Ziel sei es, die einzelnen Pilotprojekte bis 2020 zu einem landesweiten Sozialkredit-System zusammenzufassen. Ein einheitliches System existiert bis heute allerdings noch nicht.
Chuncheng Liu, Sozialwissenschaftler an der University of California, teilt die chinesischen Bewertungssysteme in vier Kategorien ein. Drei davon werden von der Regierung kontrolliert: das landesweite Finanzkreditsystem, das von der Chinesischen Volksbank verwaltet wird und in etwa der deutschen Schufa entspricht, die kommunalen Sozialkredit-Systeme, die von den jeweiligen kommunalen Regierungen aufgebaut und verwaltet werden, und die schwarzen und roten Listen.
Die schwarze Liste bedeutet, seinen Ruf oder ein Stück Freiheit zu verlieren
Es existiert eine Vielzahl unterschiedlicher roter und schwarzer Listen mit verschiedenen Kriterien. Von der Regierungspartei als vertrauenswürdig eingestufte Bürger stehen auf der roten Liste. Bei einem Verstoß gegen Gesetze und Richtlinien wird man auf der schwarzen Liste vermerkt und vom Staat bestraft. Die Form der Bestrafung variiert je nach schwarzer Liste. Oft muss man mit Freiheitseinbußen rechnen, insbesondere mit Einschränkungen der Informations-, Meinungs- und Bewegungsfreiheit. Wer beispielsweise auf der schwarzen Liste der Verwaltung für Zivilluftfahrt steht, darf keine Flugtickets mehr buchen. Eine Person, deren Name auf der schwarzen Liste der Zentralen Kommission für Cyber-Space-Angelegenheiten hinterlegt ist, etwa, weil sie aus Sicht der Regierung Gerüchte im Internet verbreitet hat, bekommt nur noch beschränkten Zugriff auf das Internet. Auch diejenigen, die bei Rot über die Ampel gehen, landen auf einer schwarzen Liste. Zur Bestrafung werden sie öffentlich angeprangert. Gesicht, Name und Anschrift werden auf dem Bildschirm neben der Kreuzung veröffentlicht. Wer auf einer schwarzen Liste landet, muss außerdem mit einem Punktabzug in seinem Sozialkredit-Konto rechnen, denn die Daten der schwarzen und roten Listen fließen in die Sozialkredit-Systeme mit ein.
Aus welchen Gründen man auf eine schwarze Liste gesetzt wird, scheint nicht immer nachvollziehbar zu sein. Der Investigativjournalist Liu Hu vermutet, dass die Kommunistische Partei Chinas die schwarzen Listen nutzt, um die Kontrolle über Regierungskritiker zu erhalten. In einer Dokumentation von ZDFinfo sagt er: „Eine Menge Leute stehen zu Unrecht auf der schwarzen Liste. Sie kommen von ihr aber nicht wieder runter.“ Auch Hu selbst steht seit 2017 auf einer schwarzen Liste. Er glaubt, aufgrund seiner kritischen Haltung gegenüber der chinesischen Regierung dort gelistet zu sein. Reisen mit dem Hochgeschwindigkeitszug und mit dem Flugzeug sind ihm nicht mehr möglich.
Sesame Credit: Eltern schneiden besser ab als Gamer
Während das landesweite Finanzkreditsystem, die kommunalen Kreditsysteme und die roten und schwarzen Listen von der Regierung verwaltet werden, sind diekommerziellen Sozialkredit-Systeme in der Hand privater Unternehmen.Dennoch werden sie von der Chinesischen Volksbank überwacht. Woher die kommerziellen Systeme ihre Daten beziehen, ist nicht immer nachvollziehbar. Das derzeit wohl bekannteste Nicht-Regierungs-Sozialkredit-System heißt Sesame Credit, auch Zhima Credit genannt. Es bewertet derzeit rund acht Millionen User und gehört dem Unternehmen Ant Financial, einer Tochtergesellschaft der chinesischen Handelsplattform Alibaba. Das Sesame-Konto wird aus der Kredithistorie und persönlichen Daten wie beispielsweise dem Bildungsgrad errechnet. Auch private Beziehungen werden beobachtet und registriert. Wer beispielsweise mit dem Journalisten Liu Hu befreundet ist, muss mit Minuspunkten rechnen, denn Hu steht auf der schwarzen Liste und gilt somit nicht als vertrauenswürdige Person. Zusätzlich fließen Bezugsdaten aus sozialen Medienplattformen mit ein. Dass Sesame Credit auch die in sozialen Medien geäußerte politische Meinung in den Score mit einbezieht, streitet Ant Financial ab. „Zhima Credit überwacht weder den Inhalt der Social-Media-Beiträge der Nutzer, noch versucht es qualitative Merkmale wie den Charakter zu messen (…)“, schreibt Hu Tao, Geschäftsführer von Ant Financial, in einer Stellungnahme in der Financial Times. Auch das Kauf- und Konsumverhalten wirkt sich auf den Punktekontostand aus. Wer Windeln kauft, gilt als verantwortungsbewusst und erhält Pluspunkte. Wer Videospiele kauft und sich damit als unproduktiv outet, erhält im Gegenzug Minuspunkte.
Das Sozialkredit-System – Erziehung zur Ehrlichkeit oder Digitalisierung des Überwachungsstaates?
Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Vertrauenswürdigkeit. Diese Wörter tauchen immer wieder in dem Leitfaden zur Erstellung des Sozialkredit-Systems auf, den der chinesische Staatsrat 2014 veröffentlichte. Mit dem neuen System würden angeblich ehrliche Bürger belohnt und unehrliche bestraft werden. Ziel sei der „Aufbau einer harmonischen sozialistischen Gesellschaft“, heißt es in dem Leitfaden. Der chinesische Romanautor Murong Xuecun sieht das anders. In einem Beitrag des SWR2 Wissen sagt er: „Die Führung in Peking hat verstanden, dass die alten Werkzeuge der Kontrolle nicht mehr greifen: Aufenthalts-Registrierung, Polizei, Personenspitzel. Das reicht nicht im digitalen Zeitalter der sozialen Medien.“ Für ihn ist das Sozialkredit-System vor allem eines: ein modernes Mittel zur Machtsicherung.
Von Leonie Ludwig