Am 12. Juni ertönt um 22 Uhr mitteleuropäischer Zeit der Anpfiff zur 20. Fußballweltmeisterschaft in Brasilien. Fans aus 32 Nationen fiebern mit ihrer Mannschaft im Kampf um die Krone des Weltfußballs und freuen sich auf ein Fest der Freundschaft. Welches Land könnte eine bessere Kulisse darbieten, als jenes, in dem Fußball wie kein anderer Sport so sehr gefeiert wird? Die Realität sieht leider anders aus.
Voller Vorfreude blickt die ganze Welt dieser Tage nach Brasilien: Das wohl größte Sportereignis der Welt beginnt in wenigen Tagen mit dem Eröffnungsspiel Brasilien gegen Kroatien in Sao Paulo.
Aus fußballerischer Sicht kehrt der goldene Pokal in seine Heimat zurück, die Heimat des „Jogo Bonito“ –dem schönen Spiel. Auf den Schultern der Mannschaft um Superstar Neymar lastet die Hoffnung einer ganzen Nation, im Kampf um die Krone des internationalen Fußballs. Es ist zu erwarten, dass die gesamte brasilianische Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt wie gebannt auf dieses Spiel schauen wird. Die meisten von ihnen sitzen dann aber nicht in den Stadien, sondern blicken aus der Ferne auf das Geschehen. Außerhalb der Stadien jedoch tobt in ganz Brasilien ein Kampf, der nichts mit dem runden Leder zu tun hat, sondern die politischen Dimensionen dieser Großveranstaltung offenbart.
Große Erwartungen
Mit der Vergabe der Fußballweltmeisterschaft im Jahre 2007 „ging ein Traum für Brasilien in Erfüllung“, so der damalige Präsident Luiz Inácio Lula da Siiva. Auch die Brasilianer empfingen das Ergebnis voller Euphorie. Kein Wunder, denn ein solch großes Ereignis verspricht auch für die Bevölkerung eine Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Situation. Gerade in einem Schwellenland wie Brasilien erhoffte man sich Verbesserungen in Bereichen der Infrastruktur, bessere Bildungsmöglichkeiten und Zugang zu medizinischer Versorgung. Darüber hinaus gibt es den Menschen die Möglichkeit, sich der Welt zu präsentieren und die Landeskultur von ihrer besten Seite zu zeigen.
Brasilien nutzt diese Chance bereits – allerdings auf eine andere Weise als beabsichtigt. Menschen gehen zu Tausenden auf die Straßen der Großstädte, um auf Missstände innerhalb des Landes aufmerksam zu machen und ihrem Ärger über die WM Ausdruck zu verleihen. Aus ihrer Sicht bewirkt die Austragung nicht die erhofften Verbesserungen durch hohe Investitionen der Regierung in Infrastrukturprogramme. Vielmehr seien es rein kapitalorientierte Unterfangen der FIFA und der Sponsoren und damit schlicht eine Verschwendung von öffentlichen Geldern, die dem Volk nicht zugutekommen.
Dem gegenüber stehen die Ansichten der Organisatoren, die von sichtbaren Fortschritten in vielen Bereichen sprechen. Wer hat also in diesem Fall Recht?
Leere Versprechungen
Zwölf entweder neuerrichtete oder modernisierte Arenen wurden eigens für die Weltmeisterschaft (um)gebaut – für umgerechnet insgesamt 1,1 Milliarden Euro. Und das, obwohl die FIFA lediglich acht Arenen forderte. Angesichts der sozialen Probleme wie Drogenhandel und Kriminalität hätten hier finanzielle Mittel eingespart und in soziale Projekte investiert werden können. Zudem sollte die Nachhaltigkeit der Bauprojekte hinterfragt werden. Nur ein kleiner Anteil der Arenen kann auch nach der WM noch genutzt werden, denn die meisten befinden sich in Städten, die keine Profimannschaft beheimaten, wie die Beispiele in Cuiaba, Brasilia, Fortaleza und Manaus zeigen. Von den teilweise in Verzug geratenen Bauplänen ganz zu schweigen. Von langfristiger und sinnvoller Planungspolitik kann also keineswegs die Rede sein.
Tatsächlich tragen die getroffenen Investitionen der brasilianischen Regierung in die Infrastruktur der Städte teilweise sichtbare Früchte, doch für die Bevölkerung sind sie nicht saftig genug. Bereits beim Confederations Cup im vergangenen Jahr bewirkte der Ausbau des Busnetzes eine drastische Kostenexplosion bei den Fahrscheinpreisen. Zahlreiche Menschen protestierten schon damals gegen diese Entwicklung auf den Straßen, die teilweise unter Polizeibeteiligung in blutige Auseinandersetzungen mündeten.
Doch die ‘positiven Eingriffe’, wenn man sie so überhaupt nennen mag, blieben und sind bisher eher Ausnahme als Regel. Denn in Hinblick auf die medizinische Versorgung oder Bildung seitens des Volkes ist bislang kein sichtbarer Fortschritt zu erkennen: Noch immer gibt es zu wenige Krankenhäuser und medizinisches Personal in den meisten Orten; noch immer ist der Großteil der Bevölkerung von der schulischen Ausbildung weitestgehend ausgeschlossen. Stattdessen wurden zwölf Arenen auf Kosten des Steuerzahlers errichtet, die den hohen Anforderungen des Fußballweltverbandes FIFA genügen.
Soziale Armut auf der einen, gigantische Fussballarenen mit angebauten Luxusvierteln auf der anderen Seite – deutlicher könnten die Unterschiede kaum ausfallen und sie verbildlichen, worum es bei der Weltmeisterschaft wirklich geht. Die sozialen Unterschiede zwischen den Schichten gleiten immer mehr auseinander und treiben einen Keil in die Gesellschaft. Die gesellschaftlichen Vorzeichen, unter denen dieses Turnier steht, könnten kaum schlechter sein.
„Kolonialismus 2.0“
Fragwürdig erscheint, inwiefern die Einheimischen an der Weltmeisterschaft überhaupt teilnehmen können, angesichts der für brasilianische Verhältnisse horrenden Ticketpreise. Alleine für ein einzelnes Ticket eines Gruppenspiels müssen schon in der preisgünstigsten Kategorie umgerechnet etwa 70 Euro auf den Tisch gelegt werden, um in den Genuss der Stadionatmosphäre zu kommen. Einen Preis, den die meisten Brasilianer aufgrund eines niedrigen Durchschnittsgehalts nicht aufbringen können und die Spiele daher wahrscheinlich vor dem Fernseher verfolgen müssen. Bereits bei Bekanntgabe der Ticketpreise schüttelten viele Menschen den Kopf. Warum sollte man eine Weltmeisterschaft in einem Land austragen lassen, in dem die meisten Einwohner noch nicht mal das Geld für die Tickets haben? Die Frustration der Menschen ist grenzenlos. „Ich liebe den Fußball, aber ich hasse die Weltmeisterschaft“, so die Meinung eines jungen Demonstranten. Für die meisten Menschen kommt die WM nur denjenigen zugute, die sich in den Logen der Arenen aufhalten.
Aus ihrer Sicht marschieren die Männer in Anzügen in ihr Land ein, verordnen Richtlinien über die Zustände und schöpfen das meiste Geld aus der Vermarktung der Fernsehrechte und den Ticketverkäufen ab. Alleine aus deutschen Fernsehrechten fließen rund 180 Millionen Euro an die FIFA, aus der gesamten Welt weit mehr als eine Milliarde Euro. Geld, das die brasilianische Bevölkerung niemals zu sehen bekommen wird und dennoch dringend benötigt. Stattdessen befinden sich Menschen weiter in ärmlichen Verhältnissen und kämpfen in ihren Favelas mit Drogenhandel und korrupten Polizeimilizen um das bloße Überleben. Ganz zu schweigen von dem aufgetürmten Schuldenberg der Regierung, der noch weiter wachsen wird.
Denn schon 2016 stehen die Olympischen Sommerspiele auf dem Plan. Auch hier müssen weitere Investitionen getroffen werden.
Brasilien gleicht einem Pulverfass
Unter diesen Voraussetzungen beginnt sie also, diese viel umjubelte Weltmeisterschaft. Verständlich ist, dass bei den meisten Menschen im Land die Vorfreude inzwischen verflogen ist und sich in eine negative Stimmung gewandelt hat. Symbolisch zündeten Demonstranten bei einer Kundgebung einen Nachbau des goldenen Pokals an und ließen ihn unter lautem Jubel in Flammen aufgehen. Es kam bei zahlreichen Protesten zu Straßenschlachten mit schwer bewaffneten Polizisten. Viele Demonstranten wurden durch Gummigeschosse und Tränengas verletzt. Und auch in den kommenden Tagen müssen wir weiter mit solchen Bildern in den Medien rechnen, zumal sich die Brasilianer die mediale Aufmerksamkeit zunutze machen werden, um die Welt lautstark auf die Missstände hinzuweisen. Präsidentin Dilma Roussef zeigt sich sichtlich bemüht, einen Konsens mit den Demonstrierenden zu finden, doch diese sind wenig verhandlungsbereit.
Die zentrale Frage, warum die FIFA überhaupt Brasilien als Ausrichtungsland einer Weltmeisterschaft auserkoren hat, kann man wohl kaum mit logischen Argumenten beantworten. Ein Land, das offensichtlich nicht den sozialen Herausforderungen gewachsen ist und in dem Gewalt zum Alltag gehört, um die Lage unter Kontrolle zu bringen, muss sich zuerst den eigenen Herausforderungen stellen, bevor es neue annimmt.
Das Ergebnis einer fehlgeleiteten Politik seitens der FIFA in Zusammenarbeit mit der brasilianischen Regierung dürfen wir nun einen Monat lang bestaunen.
Christian Ohmstedt