Ein gewöhnlicher Lerntag inmitten von Sommerhitze und Klausurenstress entwickelt sich zu einem spontanen Experiment, bei dem zwei sehr gegensätzliche Lernorte getestet werden. Dabei zeigt sich, inwiefern verschiedene Atmosphären ihre individuellen Vorteile haben und warum es manchmal der Ortswechsel ist, der den entscheidenden Unterschied macht.
Es ist ein sonniger Tag in Bremen, einer der letzten im Semester, denn die vorlesungsfreie Zeit steht kurz bevor. Aber die langsam näher rückenden Klausuren und Abgaben werfen einen dunklen Schatten auf die sommerliche Atmosphäre. Wie schön wäre es jetzt am Werdersee zu liegen, ein kühles Bier am Osterdeich zu trinken oder im Viertel einen großen Eisbecher zu verschlingen. Stattdessen sitze ich mit einigen Freunden in der stickigen Mensa auf dem Universitätsboulevard, stochere in einer kaum genieß-baren Reispfanne herum und verfolge die jeden Tag wiederkehrende Grundsatzdiskussion zwischen zwei Freunden: Wo werden die nächsten Lernstunden verbracht?
Mein Vorschlag, heute Mal Pause zu machen und stattdessen schwimmen zu gehen, wurde mit dem berechtigten Hinweis, dass wir diese Ausrede bereits gestern genutzt haben, abgelehnt. Stattdessen liefern sich meine Mitstudentinnen Sonya und Lilo ihren ritualisierten täglichen Schlagabtausch darüber, welcher Ort der beste zum Lernen ist. Für beide gibt es nur eine richtige Antwort. Sonya liebt die Bibliothek: „Ich schaffe nur da was. Ich lass’ mich ansonsten zu schnell ablenken und ich muss meine Hausarbeit übermorgen abgeben.“ Lilo ist kein großer Fan von diesem Vorschlag: „In der Bibliothek ist es zu still. Und zu angespannt! Und insgesamt ist die ganze Atmosphäre da irgendwie… tot“. Ihr alternativer Vorschlag: Ein gemütliches Café. Am besten das Noon, Lilos Lieblingsort im Viertel, der in ihren Augen die Bib um Weiten übertrifft: „Da ist es viel entspannter. Man muss nicht so verkrampft leise sein und es gibt guten Kaffee!“ Sonya verzieht das Gesicht. Ihr ist das Noon zum Lernen zu laut und chaotisch und sie findet es überflüssig, extra Geld für Getränke ausgeben zu müssen.
Der ultimative Lernort-Test
Wie erwartet, wenden sich Sonya und Lilo nun mir zu. Da mein Standpunkt zum perfekten Lernort weniger festgefahren ist, bleibt die letztendliche tägliche Auswahl in der Regel an mir hängen. Während die beiden in ihre Diskussion verstrickt waren, habe ich mir jedoch einen ganz anderen Plan überlegt, um den restlichen Lerntag etwas interessanter zu gestalten: Statt eine Entscheidung für einen der beiden Orte zu treffen, mit der eine Person automatisch nicht zufrieden wäre, soll diese Debatte ein für alle Mal geklärt werden, indem wir einen ultimativen Lernort-Vergleich durchführen.
Ich präsentiere den beiden meinen Vorschlag: Erst geht es für einige Stunden in die Bibliothek und die zweite Hälfte des Tages wird dann im Café Noon verbracht. Für einen fairen Wettbewerb müssen sich natürlich alle Beteiligten bemühen, beiden Orten eine ehrliche Chance zu geben, ihnen also möglichst offen und neutral begegnen. Im Anschluss wird dann gemeinsam diskutiert und entschieden, welcher der Orte (möglichst objektiv gesehen) der bessere war. An diesem werden wir alle Lernstunden der restlichen Woche verbringen, anstatt jeden Tag erneut die gleiche langwierige Diskussion zu führen. Sonya und Lilo sind von dieser Idee schnell überzeugt und erklären sich mit den Bedingungen einverstanden. Beide scheinen zuversichtlich, dass der Wettbewerb sich am Ende für ihren Favoriten entscheiden wird. (So viel also zu „beiden Orten eine ehrliche Chance geben“.)
Ein Konzertsaal der Konzentration und Stille
Bevor wir so richtig in den ersten Teil unseres Wettbewerbes starten können, müssen wir noch den für Bibliotheken typische Taschen-Abgabe-Prozess hinter uns bringen. Während wir in der Schlange zu dem entsprechenden Schalter im Eingangsbereich stehen, schüttelt Lilo missbilligend den Kopf und murmelt etwas von „verschwendeter Zeit“ vor sich hin. Eigentlich geht aber alles recht zügig von statten und nachdem wir unsere Taschen losgeworden sind, die Lernsachen in den tragbaren blauen Plastikkörben der Bibliothek verstaut haben und mit dem Aufzug in den zweiten Stock gefahren sind, haben wir unseren ersten Lernort fast erreicht. Nur noch die schweren Glastüren des Treppenhauses aufdrücken und schon empfängt uns die bedächtige Atmosphäre der Bibliothek.
Eine dumpfe Stille liegt über den langen Gängen aus Bücherregalen und den vielen Tischen, die überall im Raum platziert sind. Die einzig hörbaren Geräusche sind das leise Klackern der vielen Laptoptastaturen und das gelegentliches Seitenrascheln, welches von den zahlreichen Studierenden, die an den Tischen sitzen oder durch die Gänge schleichen, ausgeht. In dieser fast ehrfurchtsvoll wirkenden Ruhe wird jeder unserer noch so leisen Schritte auf dem weichen Teppichboden zu einem störenden Geräusch in einem Konzertsaal der Konzentration und Stille. Viele der Studierenden, die über ihre Laptops, Tablets und Bücher gebeugt sind, heben ihre Köpfe kaum merklich, als wir vorbeigehen, bleiben dabei aber tief in ihrer eigenen Gedankenwelt versunken. Die gesamte Umgebung scheint darauf ausgerichtet zu sein, möglichst ungestört und fokussiert arbeiten zu können. Das gedämpfte Licht, die reduzierte Geräuschkulisse und das emsige Arbeiten der anderen erzeugt eine fast meditative Atmosphäre, von der wir, nachdem wir einen Platz gefunden haben, ebenfalls vollständig eingenommen werden. In der Bibliothek scheint die Zeit anzuhalten und die Außenwelt zu verblassen. Selbst Lilo taucht, trotz anfänglicher Skepsis, nach wenigen Minuten komplett in ihrer Lerneinheit ein.
Nach drei Stunden, in denen ich kaum mehr als ein paar Sekunden meine Finger von der Laptoptastatur gelöst habe, sind so viele Seiten für einen meiner Essays entstanden wie schon seit langem nicht mehr. Aber nun lässt mich das typische Nachmittagstief langsam, aber sicher den Rhythmus verlieren. Immer wieder muss ich gähnen und schiele auf die Uhr und auch Sonya starrt schon seit einigen Minuten in die Luft, anstatt fleißig ihre Hausarbeit weiterzuschreiben. Alles ganz klare Zeichen: Es ist Zeit für eine Pause. Und natürlich für unseren Ortswechsel.
Von einer Welt in die nächste
Als wir wieder vor der Bibliothek stehen, muss ich im Licht der Nachmittagssonne blinzeln, da meine auf die schwummrige Innenbeleuchtung eingestellten Augen sich erst wieder an das helle Tageslicht gewöhnen müssen. Lilo streckt sich ausgiebig und verkündet: „Ich muss zugeben, ich hab doch echt viel geschafft. So schlecht war es gar nicht.“ Sonya nickt zufrieden.
Auf dem Weg mit unseren Fahrrädern zum Café Noon ist die Stimmung gelöst, wir alle sind froh wieder in normaler Lautstärke miteinander reden zu können und ein wenig in Bewegung zu sein. Als wir nach einer kurzen Fahrt unser zweites Ziel erreicht haben und unsere Räder im Hinterhof vor dem Eingangsbereich des Noons anschließen, können wir durch die Glasfassade bereits einen Blick auf das Getümmel im Inneren erhaschen. Das Noon befindet sich im Bremer Viertel im Foyer des kleinen Hauses vom Theater am Goetheplatz. Es ist als Workspace ausgerichtet und wird von Studierenden, Selbstständigen und Kreativen zum Lernen und Arbeiten genutzt, ist gleichzeitig aber auch ein beliebter Ort für Treffen mit Bekannten und Freunden auf eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen. Die kleinen Tische, die draußen vor dem Café direkt neben den bodenlangen Fenstern stehen sind bereits alle von Leuten besetzt, die die späten Sonnenstrahlen des Tages genießen.
Das Herz des Trubels
Als wir das Café betreten, werden wir von einer warmen und fröhlichen Atmosphäre und dem Geruch von frisch gemahlenem Kaffee empfangen. Das Tageslicht taucht auch das Innere des Cafés in ein helles und freundliches Licht. Die Einrichtung ist modern und schlicht, mit einer Prise Hipster-Chic. Sattgrüne Pflanzen neben hellen Holzmöbeln und schmalen Sofas, auf den Tischen frische Blumen in alten Flaschen, und Lampen im Industrial-Look. Wir suchen uns einen kleinen Gruppentisch nahe dem Eingang und bestellen uns dann direkt die sehnlichst erwarteten Getränke an der Theke. Sonya grummelt zuerst noch etwas vor sich hin, als sie die Preise auf der Tafel hinter dem Tresen sieht, aber als sie an unserem Platz den ersten Schluck von ihrem Kaffee nimmt, sieht sie doch ganz zufrieden aus und gibt zu „Na gut, der Kaffee ist super. Und die Atmosphäre hier ist irgendwie schön.“.
Ich bin ebenfalls froh jetzt in dieser lebendigen Umgebung zu sein. Statt weiter an meinem Essay zu arbeiten, wende ich mich einem künstlerischen Projekt aus einem anderen Seminar zu und auch die anderen beiden scheinen sich mit weniger trockenen Aufgaben als in der Bibliothek zu beschäftigen. Um uns herum sitzen die Leute teils allein mit aufgeschlagenen Büchern oder Laptops auf den Tischen und teils zusammen in kleinen lachenden und plaudernden Grüppchen. Der ganze Raum ist erfüllt von einem Summen der vielen Unterhaltungen, das in unregelmäßigen Abständen von Geschirrgeklapper und dem Zischen der Kaffeemaschine ergänzt wird. Wir unterbrechen unsere Arbeit immer Mal wieder für kurze Unterhaltungen oder neue Kaffeebestellungen, tauchen danach aber auch wieder in längere Konzentrationsphasen ab. Die gesamte Umgebung strahlt eine kreative und belebende Energie aus, die auch hier mitten im Herz des Trubels die Stunden vorbeifliegen lässt.
Ein unerwartetes Ergebnis
Nach ungefähr drei weiteren Stunden beenden wir unsere zweite Lernsession. Als wir vor dem Noon stehen, fällt die geplante Diskussion über den besten Lernort deutlich kürzer aus als erwartet. Wir sind uns alle einig. „Ich glaube, ich kann mich überhaupt nicht entscheiden“ platzt es nämlich aus mir heraus, noch bevor wir bei den Fahrradständern angekommen sind und die beiden anderen stimmen sofort zu. Wir sind so weit wie vorher. Keiner von uns kann sich für einen einzelnen der beiden Orte entscheiden. Beide Orte hatten ihre ganz eigene besondere Umgebung mit unterschiedlichen Vor- und Nachteilen.
Ein bisschen weiter sind wir vielleicht schon, denn etwas hat mir der Tag trotzdem gebracht. Er hat gezeigt, wie hilfreich es sein kann, beim Lernen die Orte zu wechseln. Die Stille der Uni-Bib hat mir ermöglicht tief in die Schreibarbeit meines Essays einzutauchen und konzentriert viele Seiten auf Papier zu bringen, während das Café Noon mir mit seinem bunten Treiben frische Energie und kreative Impulse für mein kreatives Projekt geliefert hat. Jeder Lernort hat seine individuelle Atmosphäre. Es gibt kein Patentrezept. Was für den einen funktioniert, muss für den anderen nicht passen. Doch gerade in dieser Vielfalt liegt die Stärke – unterschiedliche Orte können für unterschiedliche Aufgaben genau das Richtige sein. Es lohnt sich, mit der Umgebung zu spielen, um das Beste aus dem Lernen herauszuholen.
von Lina Großhans