Tugce A. war eine mutige, junge Frau, die Zivilcourage gezeigt hat, indem sie zwei minderjährige Mädchen vor einer Gruppe aufdringlicher junger Männer in Schutz genommen hat. Durch einen Faustschlag einer der Jugendlichen an ihre Schläfe starb sie wenig später im Krankenhaus an ihren schweren Kopfverletzungen. Der mediale Aufschrei war riesig und Tugce wurde zur Heldin, die für ihren Mut und ihre Hilfsbereitschaft ihr Leben lassen musste. Unsere KROSSE-Redakteurin hat einmal bewusst Abstand zu den allgemeinen Medienberichten genommen und ihre Gedanken zu den Ereignissen auf eine andere Art und Weise zum Ausdruck gebracht.
Wir fahren durch die Straßen des Lebens. Alles zieht im fünften Gang an uns vorbei. Vor mir staut es sich. Auffällig viele Menschen stehen auf der Straße, ihre Autos reihen sich hintereinander auf. Natürlich haben sie keine Gasse gelassen, aber egal. Sie stehen vor einem Fenster und schauen durchs Glas. Ich steige aus, möchte auch wissen, was sie sehen. Ich gehe zu ihnen und dränge mich durch die Masse. Stickig und eng ist es hier. Ihr schneller Atem dröhnt in meinen Ohren. Es kam mir vor, als seien sie auf der Flucht und würden kurz verschnaufen, bevor es weiter geht. Ich kämpfe mich bis ganz nach vorne, bis auch ich es sehen kann.
Da sind zwei Mädchen, wahrscheinlich minderjährig und angetrunken. Sie sind in einer McDonald’s-Filiale und werden von mehreren jungen Männern belästigt. Ein Mädchen, Anfang 20, kommt ihnen zu Hilfe. Wer weiß, was sonst passiert wäre. Einige Zeit später verlässt dieses Mädchen mit einer Gruppe von Freundinnen das Restaurant. Auf dem Parkplatz beschimpft sie einer der Jugendlichen, vor denen sie zuvor noch die zwei Mädchen beschützt hat. Man hört nicht, was sie ihm antwortet. Er läuft aufgebracht umher, lässt sich von seinem Freund kaum zurückhalten.
Dann passiert es: Er trifft das Mädchen mit einem Faustschlag an der Schläfe, worauf es mit dem Kopf unkontrolliert auf dem harten Steinboden aufschlägt und regungslos liegen bleibt. Sie stirbt an ihren Verletzungen. Die Menschen, die fassungslos mit mir durch die Scheibe schauen, schreien auf, können ihre Empörung und Wut kaum zum Ausdruck bringen. Da ist ein junges Mädchen, das sich schützend vor zwei Minderjährige gestellt hat und dies mit ihrem Leben bezahlen musste. Sie hat Zivilcourage bewiesen – eine Eigenschaft, die in unserem Wertesystem eines der höchsten Güter darstellt, denn sie hat anderen geholfen und die Möglichkeit in Kauf genommen, selbst negative Konsequenzen ihres Handelns zu erfahren. Dass diese Konsequenzen so düster aussehen, hat auch sie wahrscheinlich nicht vermutet.
Ich bekomme ein flaues Gefühl im Magen. Niemand fährt weiter, wie es eigentlich sonst der Fall ist. So oft rasen wir weiter und das, was um uns geschieht, verändert sich so schnell wie wir uns bewegen. Wenn wir anhalten und uns ausruhen, pausieren, dann schauen wir durch das Fenster in eine andere Realität als wir sie kennen. Manchmal sehen wir Parallelen, manchmal nicht. Viele von uns schauen hindurch, damit die Sensationslust befriedigt wird. Wir halten an und gaffen. Wenn etwas tragisch ist, dann sind wir kurz betroffen und fahren weiter. Wenn etwas ungerecht ist, dann ärgern wir uns und fahren weiter. Wir sehen so viele Bilder und speichern so wenig ab. Wahrscheinlich bekommen wir zu viel Input und haben nicht genügend Speicherkapazitäten. Es sind die Opfer der Vergänglichkeit. Anstatt langsamer zu fahren und genauer hinzuschauen, haben wir die flüchtigen und verschwommenen Eindrücke schnell wieder vergessen. Es erinnert mich viel zu oft an eine Art rücksichtsloses Wettrennen – die Bilder können sich gar nicht schnell genug ändern. Wer zu langsam ist, verliert den Anschluss.
Diesmal sehe ich jedoch Trauer, Wut, Ungerechtigkeit, Mitgefühl und Verzweiflung in den Gesichtern der Menschen um mich herum. Es ist anders als bei den meisten Stationen, bei denen wir einen Gang zurück schalten, damit wir für eine kurze Zeit klarer sehen. Trotz der bedrückenden Bilder bin ich froh, dass die Gefühle, die die Nachricht ausgelöst hat, den Menschen scheinbar in Erinnerung rufen, was wirklich wichtig ist. Dass es das Gute noch gibt. Und dass sich viele einig sind, dass es das Gute weiterhin geben muss. Ganz egal, ob und wie verzerrt die Realität, die wir durch diese Scheibe gesehen haben, auch sein mag – wichtig ist doch, was sie in den Köpfen der Menschen bewirkt. Ich hatte das Gefühl, dass – so traurig die Geschehnisse doch sind – das Mädchen ein Symbol für Menschlichkeit sein könnte. („Menschlichkeit“ ist sicherlich ein unglücklicher Ausdruck für das, was gemeint sein soll. Trotzdem versteht es jeder.) In diesem Moment sehe ich keine Arroganz, keinen Egoismus. Ich sehe Menschen, die das Mitgefühl und die Empathie feiern.
Neben mir flüstert eine Frau mir zu: „Helfen Sie bloß niemandem mehr, denn hier sehen Sie, was passiert.“ Das bringt mich zum Grübeln. Ich kann die Gedanken der Frau zwar irgendwo nachvollziehen: Handeln wir selbstlos, so nehmen wir im schlimmsten Fall auch unseren Tod in Kauf. Doch wegschauen, wenn wir selbst involviert sind und hinschauen, wenn es uns nicht direkt betrifft? Nein, wir alle würden Hilfe wollen, also sollten wir auch Hilfe leisten. Gemeinschaft. Wir sind nicht allein und wir sind auch nicht besser. Also tun wir doch für andere, was auch wir uns für uns selber wünschen würden. Dass wir überhaupt etwas tun, ist das Wichtigste. Wenn wir nur reden, was wir tun könnten oder was getan werden sollte, dann wird sich nichts ändern.
Ich hoffe diesmal inständig, dass dieser Weckruf laut genug ist, dass unsere Augen nicht schon bald wieder schwer werden. Und während ich mit meinen Gedanken in einer gemalten Zukunft schwelge, nimmt die Realität, das Leben, wieder Fahrt auf, bis wir uns im fünften Gang befinden und das, was hinter uns war, unsere Erlebnisse und Gedanken, in Windeseile im Rückspiegel verschwinden.
Madeline Albers