Vor knapp 20 Jahren verschwindet die neunjährige Peggy Knobloch spurlos. Es folgt einer der spektakulärsten Kriminalfälle in Deutschland – inklusive fragwürdigen Ermittlungsmethoden und einer falschen Verurteilung. Krosse-Autorin Annika Hinke arbeitet den Fall, nun ein Cold Case, nochmal für euch auf.
Am 07. Mai 2001 verschwindet Peggy spurlos. Morgens verlässt sie das Haus wie an jedem anderen Tag auch, um zur Schule zur gehen. Sie besorgt sich ihr Lunchpaket im nahe gelegenen Supermarkt und besucht dann den Unterricht. Nach dem Schulschluss um 12:50 macht sie sich in Begleitung ihrer Klassenkameradin auf den Heimweg, ein bisschen verspätet. Bis heute ist unklar, ob sie tatsächlich jemals Zuhause angekommen ist. Sicher ist nur, dass Peggys Mutter die Schülerin am Abend des 07. Mai vermisst meldet.
Zunächst steht die eigene Familie des Mädchens unter Tatverdacht. Die Vermutung: Peggys Stiefvater soll sie in die Türkei entführt haben, weil er und Peggys Mutter sich über die Erziehung uneinig gewesen sein sollen. Nach langer Ermittlungsarbeit in Deutschland wie auch in der Türkei werden diese letztendlich eingestellt. Die Spur ist ausermittelt.
Der erste Tatverdächtige: der lokale Exhibitionist
Als nächstes verdächtig: Ein geistig eingeschränkter Mann namens Ulvi Kulaç. Der Mann, der als Kind eine schwere Hirnhautentzündung erlitten hatte und schwere Schäden davon trug, soll Peggy Tage vor ihrem Verschwinden vergewaltigt haben. Er fiel schon vorher durch exhibitionistische Taten gegenüber Kindern auf und befand sich deshalb in Therapie. An jenem Tag soll er auf Peggy gewartet haben, um sich bei ihr zu entschuldigen, erzählt Kulaç der Polizei. Dabei sei das Mädchen vor ihm davongelaufen und hätte geschrien. Deshalb habe er sie erwürgt, gesteht er.
Kulaç wird zu lebenslanger Haft wegen Mordes verurteilt. Die Anklage wegen Kindesmissbrauchs wurde jedoch wegen Schuldunfähigkeit eingestellt – aufgrund seiner niedrigen Intelligenz. Ihm sei sich nicht bewusst gewesen, dass er unrechtmäßig handelte. Doch warum hätte er sich dann bei Peggy entschuldigen wollen?
Die Anwohner Lichtenbergs glauben jedoch an die Unschuld des Mannes. Sie starten im September 2004 eine Bürgerinitiative. Die Journalisten Ina Jung und Christopher Lemmer schauen sich den Fall genauer an – und stellen fest: Kulaçs Geständnis kam durch viele kuriose „Zufälle“ zustande, wie die Recherchen der Journalisten später ergeben. Diese veröffentlichen sie 2013 schließlich in dem Buch „Der Fall Peggy: Die Geschichte eines Skandals“.
Heraus kommt: Ulvi Kulaç wurde mehrere Stunden mit der sogenannten Reid-Methode vernommen. Dabei wird einem Verdächtigen nur die Möglichkeit eines Geständnisses eingeräumt. Einem unbeteiligten Polizeibeamten, der Kulaç nach dem Verhör zu seinem Auto bringen soll, sagte dieser, er wolle nun doch gestehen. Ausgerechnet zu dem Zeitpunkt des Geständnisses soll das Tonaufnahmegerät defekt gewesen sein, sodass es von seinem Geständnis keine Aufzeichnung gibt. Vor Gericht wird es aufgrund eines Gutachten von einem Psychiater trotzdem verwendet. Dieser bescheinigt, dass Kulaç Geständnis mit hoher Wahrscheinlichkeit mit der Realität übereinstimmt und der geistig behinderte Mann sich dies aufgrund seiner Krankheit nicht ausgedacht haben könne.
Was ist nun wirklich passiert?
Mehrere Zeugen wollen Peggy noch am Nachmittag und Abend in Lichtenberg umherwandern gesehen haben. Laut Gerichtsurteil hätte das Mädchen zu jenem Zeitpunkt aber schon lange tot sein müssen. Keiner dieser Augenzeugen wurde vor Gericht als Zeuge geladen und keine ihrer Polizeiaussagen wurden berücksichtigt. Im Gegenteil: Die Kriminalbeamten haben zwei Jungs wohl so lange unter Druck gesetzt, bis diese ihre Aussage, sie hätten Peggy gegen 16 Uhr noch einmal gesehen, zurücknehmen. Zudem widerruft ein Belastungszeuge, der mit Kulaç in der Psychiatrie einsaß, seine Aussage. Vor Gericht sagte dieser aus, Ulvi habe ihm den Mord an der Neunjährigen gestanden. Kulaç wird am 14 Mai 2012 freigesprochen. Der Fall Peggy gilt nun wieder als Vermisstenfall.
Ein neuer Verdächtiger tritt ins Bild
Die Polizei beginnt mit ihren Ermittlungen wieder bei null. Laut Jung und Lemmer taucht ein nun neuer Verdächtiger auf. Der damals Siebzehnjährige hat Peggy wohl schon im Sommer 2000 mehrfach besucht. Er war zu Gast bei den Nachbarn der Familie und hat viel mit dem Mädchen unternommen. Ab diesem Zeitpunkt habe Peggy angefangen, sich auffällig zu verhalten. Sie fing an, sich wieder einzunässen und wirkte traurig, berichten Menschen aus ihrem näheren Umfeld.
Der Verdächtige verstrickt sich in Falschaussagen. Schließlich wird die Spur trotzdem fallen gelassen, denn der junge Mann hätte kein Auto zur Verfügung gehabt, um ins mehrere Kilometer entfernte Lichtenberg zu reisen, noch würde er einen Führerschein besitzen. Die Recherche der Journalisten ergibt: Das Auto wäre sehr wohl vorhanden gewesen. Später wird der damals Verdächtige wird wegen Kinderpornografie und Kindesmissbrauchs an der eigenen Tochter und der Nichte verurteilt. Hat er sich auch an Peggy vergangen?
15 Jahre später: Der Knochenfund
Im Jahr 2016 werden Peggys Überreste von einem Pilzsammler in einem Waldstück in der Nähe ihres Wohnortes entdeckt. Die Ermittlungen nehmen endlich wieder Fahrt auf. Für kurze Zeit steht der Verdacht im Raum, Peggy sei Opfer der NSU geworden, denn die Polizei stellt Spuren von Uwe Böhnhardt, einem berühmten Mitglied der Terrorgruppe, sicher. Fehlalarm, denn die Polizei selbst hat wohl die Spuren zum Fundort gebracht: Allem Anschein nach wurden die Gerätschaften der Spurensicherung nicht ausreichend gereinigt, sodass sich an diesen noch Spuren eines anderen Falls befanden.
Doch als erwiesen gilt: An Peggys Leiche findet man Pollenspuren und Grundierungsreste. Diese Spuren werden auf einen Mann namens Manuel S. zurückgeführt. Auch er lebt in Lichtenberg. Seine Mutter hatte zuvor Ulvi Kluaç belastet, indem sie der Polizei erzählte, dass er auf dem Marktplatz auf Peggy gewartet hätte. Bei der Polizei gibt Manuel S. nach einem stundenlangen Verhör an, er hätte Peggy zwar in den Wald gefahren, aber nicht getötet: Jemand anderes hätte ihm den Leichnam des Mädchens überreicht. Später widerruft Manuel S. seine Aussage, die, wie er sagt, nur auf Druck der Polizei zustande gekommen sei.
Der Fall Peggy wird zum Cold Case
Heute, 19 Jahre nach dem mysteriösen Verschwinden des jungen Mädchens, ist der Fall zu den Akten gelegt – er ist ein Cold Case. Doch in den Köpfen vieler Menschen ist der Tod von Peggy Knobloch nicht vergessen. Viele Fragen bleiben ungeklärt und eine Vielzahl an Theorien über den Mord der Neunjährigen geistern herum.
„Der Fall Peggy. Die Geschichte eines Skandals“ gilt als erste umfassende Darstellung der Ereignisse. Und auch heute noch ist das Buch mehr als aktuell. Jeder, der sich mit dem Fall beschäftigen möchte, sollte ein Blick in das Buch werfen. Über 360 Seiten beschreiben die Autoren den Fall aus einem anderen Blickwinkel. Was am Ende übrig bleibt? Eine tiefe Trauer und Fassungslosigkeit, nicht nur über das Schicksal Peggys, sondern auch über die Ermittlungsarbeit und die Techniken der Polizei.
Von Annika Hinke
Foto von David von Diemar auf Unsplash