Sløborn – eine fiktive Insel in der Nordsee nahe des dänischen Festlandes dient als Schauort einer Dystopie. Eine Dystopie, die mit ihrem Plot längst von der Realität eingeholt wurde und unserer Gegenwart viel zu ähnlich sieht. KROSSE hat sich die Serie angeschaut.
Die achtteilige Kurzserie steigt mit der ersten Szene unmittelbar in das Zeitgeschehen ihrer nahen Zukunft ein. Menschen rennen von Angst und Panik getrieben über die Straßen. Fahrzeuge in Tarnfarbe und Streifenwagen mit Blaulicht fahren durch den Ort. Soldat:innen mit Gasmasken und Schusswaffen evakuieren die Insel. Leichensäcke liegen auf Fußgängerwegen. Militärhubschrauber fliegt über den Hafen. Infizierte spucken Blut, ihre Tränen sind rot. Das Taubenvirus und seine Mutationen hat die Welt umkreist und versetzt Sløborn in einen Seuchenherd.
Ein Spinnennetz aus Charakteren
Im Zentrum der Geschichte steht Evelin Kerner (Emily Kusche), 15 Jahre alt und verliebt in ihren Vertrauenslehrer Milan Gruber (Marc Benjamin) – hin und her gerissen zwischen Freiheitsdrang und Verantwortungsbewusstsein. Denn neben ihren Eltern, die inmitten einer Trennung stehen, gibt es noch ihre drei jüngeren Geschwister. Der Vater (Wotan Wilke Möhring) sehnt sich nach seiner Karriere auf dem Festland. Die Mutter (Annika Kuhl) nach ihrer auf der Insel.
Evelin steht im Fadenkreuz aller Figuren, die in der Serie ihren Platz finden und aus jeglichen Winkeln agieren. Auf Sløborn eingereist, ist die Berühmtheit Nikolai Wagner (Alexander Scheer). Autor und Junkie, der während einer Apokalypse und im Rausch seines kalten Entzugs einen Roman schreibt. Yvonne (Linda Stockfleth) ist die beste Freundin von Evelin und Anhängerin einer christlichen Sekte, der Freikirche. Sie und ihre Familie beten jeden Tag für das jüngste Gericht und der Wiedergeburt Jesus. Hermann (Adrian Grünewald) ist der Außenseiter der Klasse. Er entpuppt sich im Laufe der Geschichte an der Seite von Evelin als Anti-Held.
„Wild leben, jung sterben“
Daneben finden sich in der Sløborner Gemeinde noch zwei gewalttätige Väter, ein Pfarrer und eine Buchhändlerin. Sie konnte den Autor Nikolai Wagner für eine Lesung auf der Insel locken – auch wenn seine Begeisterung nur für das Honorar brannte. Als ob die Leben der Insulaner:innen und das des vom Festland gestrandeten Autors für die Erzählung nicht genügend Stoff bieten würde, taucht ebenso eine Gruppe von jugendlichen Schwerverbrecher:innen auf. Zu zehnt nehmen sie an einem Resozialisierungsprogramm teil, welches von zwei Sozialarbeiter:innen mit dänischem Akzent geführt wird. Freja (Karla Nina Diedrich) und ihr Kollege Magnus Fisker (Roland Møller). Wiedergekehrter Einheimischer, der Ex von Evelins Mutter und älterer Bruder des Drogendealers Jan (Mads Hjulmand).
Alle lebten ihre Leben. Alltägliche, die aus der Wirklichkeit hätten gegriffen werden können. Dabei geht es um die Liebe. Gewalt und Trennung. Zukunftswünsche und Freiheitsgefühl. Verantwortung und Egoismus. Eskapismus und Engagement. Bis die Welt und Sløborn von einem Virus, der sogenannten Taubengrippe, heimgesucht werden und das Chaos ausbricht. Plötzlich spaltet sich die Sløborner Gemeinschaft. Wutbürger:innen und Verschwörungstheoretiker:innen suchen und finden ihren Sündenbock. Während die einen sich verkapseln, gehen vereinzelt Jugendlichen ihrem Klischee nach: „Wild leben, jung sterben“.
Ins Zentrum gerückt und zur scheinbaren Heldin der Menschheit deklariert, flüchtet Evelin aus einem Kieler Auffanglager für Infizierte. Sie schafft es zurück in ihre gehasste Heimat zu fliehen, wo „jeder jeden kennt und die Landschaft mit ihren Dünen und Wiesen so traumhaft ist“. Derweil missglückt dem Krisenstab den Versuch zentral aus Berlin mit all seinen Mitteln und Wegen die Bevölkerung in den Quarantäne-Herden unter Kontrolle zu bringen: Von einer schussbereiten Bundeswehr, Evakuierung bis hin zu Zwangsuntersuchungen und Auswertungen mobiler Daten.
Bewegtbilder sprechen Bände
Auch wenn der Cast der Serie breit gefächert ist und die Anzahl der Charaktere es kaum möglich macht, in die Tiefe jeder einzelnen Figur zu tauchen, wird jedoch in der Gesamtkonstellation und im Kontext des Geschehens ein kompakter Rahmen wiedergespiegelt. So entfalten sich die Nebendarsteller:innen von einer Randnotiz zu einem tragenden Pendant in der Geschichte. Christian Alvart, Autor, Regisseur und Kameramann ließ die Szenen ineinander übergreifen und voneinander ablösen – das eine oder andere mal zu reibungslos. Der Erzählfluss wird dadurch jedoch nicht gehemmt. Dialoge sind auf das maximale Minimum reduziert. Dafür sprechen die Bewegtbilder Bände. Neben dem Spiel von Licht und Schatten, der wechselnden Tiefenschärfe und dem Mut zu extremen Einstellungen von Close-Ups und Supertotalen, rundet der Soundtrack die Ästhetik der Serie ab. Statt Klassiker der Charts, transportieren atonale Klänge und stumme Szenerien die Atmosphäre von Sløborn. Annähernd wie in Thoroughbreds aus dem Jahre 2017.
Mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie Ende 2019 in Wuhan, China wurde der Plot von Sløborn annähernd von unserer Realität eingeholt. Die Ideenfindung, Entwicklung und Produktion der surrealistischen Dystopie reichen jedoch schon Jahre zurück, lange bevor der Begriff „Corona“ in aller Munde war. Zwischen den Jahren 2008 und 2009 spielte Christian Alvart erstmals mit den Gedanken, jenen Katastrophenfilm zu produzieren. Die Dreharbeiten von Sløborn begannen zehn Jahre später im August 2019 auf der ostfriesischen Insel Norderney und dem polnischen Ort Sopot. Erst in der Postproduktion wurde beispielsweise der Kommentar „Soll ich jetzt etwa Desinfektionsmittel trinken?“ als Radiobeitrag aus dem Off hinzugefügt, der unweigerlich den Bogen zu unserer Gegenwart spannt.
Zu guter Letzt schafft die Serie Sløborn mit einer überzeugenden Leistung der Schauspieler:innen eine Spannung und Dynamik aufzubauen, die für Suchtpotential sorgt. Insbesondere Alexander Scheer wird seiner Rolle des Autors, welcher im Wahn seines Selbst immer wieder vor seinem eigenen Abgrund steht, gerecht. Zudem stechen die wortlosen Szenen der Protagonistin Evelin Kerner heraus und ergreifen die Emotionen der Zuschauer:innen auf voller Länge.
Wo ist die Serie zu finden?
Den kostenlosen Stream der ZDFneo Serie ist noch bis zum 20. Juli 2021 auf der ZDF Mediathek zu finden. Die Dreharbeiten der zweiten Staffel haben bereits begonnen. Noch bis zum Ende diesen Jahres können wir auf eine Fortsetzung hoffen.
Den Trailer der ersten Staffel findet ihr hier.
von Anne-Kathrin Oestmann