Wie kann ich Menschen, die vor Krieg, Verfolgung und Not aus ihrem Heimatland fliehen müssen, aktiv helfen? Eine junge Frau hat in diesem Jahr die Entscheidung getroffen, ihre Heimat zu verlassen und einen Teil dazu beizutragen, die Welt ein kleines bisschen besser zu machen.
Genau diese Frage hat sich die 25-jährige Lina Anfang dieses Jahres gestellt. Sie ist Fotografin und kommt aus Hamburg. Ihr Wunsch ist es, aktiv zu werden und mit anzupacken. Lina ist bereit, an die europäische Außengrenze, auf die griechische Insel Samos zu gehen. Dort will sie Menschen unterstützen, die auf der Flucht nach Europa für eine sicherere Zukunft sind. Auf Samos befindet sich seit dem 18. September 2021 das „Closed Controlled Access Center“. Ein geschlossenes Flüchtlingslager mit kontrolliertem Zugang, in welchem laut der NGO „selfm.aid“ die geflüchteten Menschen einige Monate bis Jahre ausharren müssen, bis sie einen Entscheid über ihren Asylantrag bekommen. Die Lebensbedingungen dort sind äußerst notdürftig und es gibt kaum Beschäftigungsmöglichkeiten.
Die „Skills Factory“, von der Organisation „selfm.aid“ will diese Lücke mit einem großen Angebot zu verschiedensten handwerklichen Tätigkeiten füllen. Es gibt dort die Möglichkeit, beispielsweise in einer Holzwerkstatt, in einer Küche, in der Elektro-Reparatur, im Garten, im Nähbereich und im Film- und Fotografiebereich aktiv zu werden. Die Angebote richten sich dabei immer an den Bedürfnissen der geflüchteten Menschen aus. Die gemeinsame Arbeit hilft ihnen, ihren Alltag zu strukturieren, die berufliche Vergangenheit weiterzuführen oder auch Neues zu erlernen. Außerdem sollen die Chancen auf Arbeitsmarktintegration in der EU verbessert werden und durch den zwischenmenschlichen Kontakt und die gemeinsame Arbeit die mentale Gesundheit der Menschen gestärkt werden.
Lina engagiert sich seit Anfang September ehrenamtlich in der „Skills Factory“ und ist hier im Gespräch mit „krosse.info“, um ihre Erfahrungen über die Zeit auf Samos zu teilen.
krosse.info: Hallo Lina Pauline Hinsch, wie bist du auf das Projekt „Skills Factory“ gekommen?
Lina Pauline Hinsch: „Eigentlich bin ich gelernte Food-Fotografin. Die Arbeit in diesem Bereich hat mir zwar Spaß gemacht, doch sie hat mich nie erfüllt. Ich hatte stets das Gefühl, unwichtige Dinge zu fotografieren. Ich habe Content im Food-Bereich für Social-Media erstellt, deren beworbene Produkte sich im Grunde nur privilegierte Menschen leisten können. Irgendwann ist mir bewusst geworden, dass ich mit meiner Arbeit und mit meiner Kunst mehr bewegen möchte, als all den Überschuss und das Überangebot weiter anzukurbeln, während andere Menschen gar nichts zu essen haben. Ich habe nach einer sinnvolleren Arbeit gesucht und nach ein paar Stunden Recherche im Internet bin ich über die Plattform „Indigo“ auf die Organisation „selfm.aid“ gestoßen. Ich habe mich direkt in das Projekt verliebt, denn mir war von Anfang an klar, dass ich dort meine Fotografie mit sozialem Engagement verbinden kann.“
Wie wird das Projekt von den geflüchteten Menschen angenommen?
„Das Projekt wird unglaublich gut angenommen! Viele Menschen, die in dem Camp leben, hören von uns- entweder durch andere NGOs, die im Camp arbeiten, oder von Erzählungen durch ihre Freund:innen, die schon bei uns mitmachen. Unter der Woche arbeiten wir nur mit unserem festen Team, doch am Wochenende gibt es die Möglichkeit, dass auch externe Menschen an verschiedensten Workshops teilzunehmen, um die „Skills Factory“ kennenzulernen. Wenn es den Menschen dann gefallen hat, gibt es die Möglichkeit, sich bei uns einzuschreiben und die meisten können es gar nicht erwarten, ab dann jeden Tag zu uns zu kommen!“
Wie lange arbeitet ihr im Durchschnitt mit den Menschen zusammen?
„Im Durchschnitt arbeiten wir ca. drei Monate mit den Community Volunteers (Community Volunteers sind die geflüchteten Menschen, mit denen zusammengearbeitet wird. Diese werden auch offiziell als „Volunteers“ angemeldet, um den Verdacht auf Schwarzarbeit zu vermeiden, Anm. d. Red.) zusammen, bevor sie eine Entscheidung zu ihrem Verfahren bekommen. Es gibt aber natürlich auch Ausnahmen. Einige Verfahren sind komplizierter und dann kann es auch dazu kommen, dass die Personen teilweise mehrere Jahre auf ihre Open Card warten müssen. Gerade für diese Menschen ist die Skills Factory natürlich besonders wichtig, da sie ihnen Stabilität bietet.“
Wie sieht dein Alltag dort aus und was sind deine Aufgaben?
„In der „Skills Factory“ geht es darum, auf Augenhöhe miteinander zu arbeiten. Das bedeutet, dass der Schwerpunkt nicht darin liegt, geflüchteten Menschen etwas beizubringen, sondern voneinander und miteinander zu lernen. Mein Job besteht darin, sowohl den Fotografiebereich als auch den Nähbereich zu betreuen. Ich zeige den Menschen, die neu angekommen sind, wo sie die Arbeitsutensilien finden, und stehe ihnen selbstverständlich auch zur Seite, wenn sie bei einem Projekt Hilfe benötigen oder eine fachliche Frage haben. Wir haben jeden Morgen ein Meeting mit dem Internal-Team (Das Internal-Team ist das externe Volunteer-Team, deren Freiwillige für ein paar Monate in die „Skills Factory“ kommen, um das Projekt zu unterstützen, Anm. d. Red), bei dem wir den kommenden Tag besprechen. Einmal in der Woche haben wir außerdem ein großes Meeting mit dem großen Team, bei dem wir neue Projekte, Änderungen und den wöchentlichen Kochplan besprechen. Außerdem setzen wir uns im Internal-Team einmal in der Woche zusammen, um gemeinsam zu reflektieren, was in der Woche passiert ist. Dabei legen wir einen besonderen Fokus auf unsere mentale Gesundheit und besprechen Situationen, die uns die Woche über emotional beansprucht haben.“
Gibt es Dinge, die dir schwerfallen oder die dich besonders beschäftigen?
„Mir fallen vor allem die Abschiede schwer. Jedes Mal, wenn eine Person eine Open Card bekommt oder in ein anderes Camp transferiert wird, bedeutet das, dass man Abschied nehmen muss. Und mit den meisten hat man tagtäglich zusammengearbeitet, Erfolge gefeiert und gelacht. Man hat hier einen sehr persönlichen Bezug zu den Menschen, man weiß nie, welche Hürden ihnen noch bevorstehen und ob man sich vielleicht das letzte Mal gesehen hat.“
Es lohnt sich, ab und zu mal über seinen eigenen Schatten zu springen, seine Comfort-Zone zu verlassen und einfach mal zu machen
Lina Pauline Hinsch, Fotografin
Gibt es ein Ereignis oder eine Begegnung, die dir besonders im Kopf geblieben ist?
„Oh ja! Eines Tages hatten wir das große Teammeeting und da wurde dann am Ende die Frage gestellt, ob es noch etwas gibt, das jemand mit dem Rest des Teams teilen möchte. Daraufhin haben sich ein paar community volunteers kurz besprochen und einer sagte dann, dass er für all seine Freunde spricht, wenn er sagt, dass er sich von ganzem Herzen bei uns bedanken möchte, da wir dieses Projekt ermöglichen, an dem sie sich endlich wieder gesehen fühlen und dass die „Skills Factory“ für sie ein Zuhause geworden ist. Daraufhin hatte glaub ich jede:r von uns mindestens eine kleine Träne im Auge! Diese Momente gehen einem sehr nahe, weil sie so unendlich echt sind und von Herzen kommen!“
Was ist das Wichtigste, was du bis jetzt für dich dazugelernt hast?
„Es gibt viele Dinge, die ich in meiner Zeit hier gelernt habe. Persönlich bin ich mir bewusst geworden, dass es sich lohnt, ab und zu mal über seinen eigenen Schatten zu springen, seine Comfort-Zone zu verlassen und einfach mal zu machen. Außerdem habe ich hier das erste Mal erlebt, wie es ist, wirklich auf Augenhöhe mit anderen Menschen zusammen zu arbeiten, und das ist etwas, das ich nicht mehr missen möchte! Es erfordert viel Vertrauen, doch dadurch entstehen echtes Teamgefühl und eine tiefe Verbundenheit mit dem Projekt. Wenn man Menschen Vertrauen entgegenbringt und sie dabei begleitet, ihren eigenen Weg zu gehen, statt ihnen etwas vorzugeben, fängt plötzlich jeder und jede an, er oder sie selbst zu sein und die eigenen Talente zu entfalten. Das ist wunderschön zu sehen und hat sehr viel mit Würde zu tun!“
Wir alle sollten uns ab und zu die Frage stellen: „Wie kann ich die Welt ein kleines bisschen besser machen?“
Lina Pauline Hinsch, Fotografin
Hast du Tipps, wie man sich engagieren kann oder wie man helfen kann?
„Ich denke, dass wir alle uns ab und zu die Frage stellen sollten: „Wie kann ich die Welt ein kleines bisschen besser machen?“. Oft sind es schon die kleinen Dinge, die Menschen glücklich machen- ein Lächeln oder ein aufrichtiges Gespräch zum Beispiel. Zeit zu spenden ist oft wichtiger als materielle Dinge. Dafür gibt es zum Beispiel die Website „indigo.de“ oder „vostel.de“, die Freiwillige mit NGOs und Projekten im humanitären Bereich verbindet. Möglichkeiten, sich zu engagieren, gibt es viele! Und wenn man nicht so viel Zeit hat, freuen sich viele Projekte natürlich auch sehr über eine Geldspende. Auch die „Skills Factory“ benötigt stets Ehrenamtliche, die vor Ort mit anpacken, aber natürlich auch Geldspenden, um neue Anschaffungen und Arbeitsmaterialien zu finanzieren. Oft bieten Organisationen verschiedene Optionen, um sie zu unterstützen. Bei der „Skills Factory“ gibt es beispielsweise die Möglichkeit, einmalig Geld zu spenden, Mitglied zu werden oder sogar ein ganzes Department (Departments sind die verschiedenen Bereiche in der „Skills Factory“, Anm. d. Red) finanziell zu sponsoren.“
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Johanna Sprave
Das ehrenamtliche Engagement bei „Skills Factory“ auf Samos wird gegen Kost und Logis ermöglicht. Bei Interesse in der Organisation mitzuwirken, gibt es auf der Website weitere Informationen zu verschiedenen Departments, für die man sich bewerben kann. Der Aufenthalt dort ist für mindestens sechs Wochen erwünscht.
Weitere Informationen für ein ehrenamtliches Engagement bei „selfm.aid“: https://selfm-aid.ch/freiwillig-mitarbeiten/
Spenden für die Organisation „selfm.aid“: https://selfm-aid.ch/spenden/
Titelbild: Abdu