Der Roman “Shuggie Bain” von Douglas Stuart spielt im Glasgow der 1980er Jahre, wo die Menschen aufgrund der Schließung der Kohleminen unter Armut, Alkohol und Gewalt leiden. Die Geschichte folgt dem Leben des jungen Shuggie Bain und seiner alkoholkranken Mutter Agnes, die trotz ihrer Schwierigkeiten von einem besseren Leben träumt. Eine Rezension und Einordnung der Geschichte.
„Sie schnippte die Zigarettenkippe weg und sah der leuchtenden Glut hinterher, die sechzehn Stockwerke nach unten auf den dunklen Vorplatz tanzte. Agnes wollte der Stadt ihr weinrotes Samtkleid zeigen. Sie wollte von Fremden beneidet werden, wollte mit Männern tanzen, die sie stolz an sich drückten. Aber vor allem wollte sie was trinken und sich ein bisschen amüsieren. Mit gestreckten Waden drückte sie die Hüfte gegen den Fensterrahmen, verlagerte den Schwerpunkt, nahm alles Gewicht von den Zehen. Ihr Körper kippte nach vorn zu den gelben Lichtern der Stadt, und in ihre Wangen strömte Blut. Sie streckte die Arme nach den Lichtern aus, und einen kurzen Moment lang konnte sie fliegen. Niemand achtete auf die fliegende Frau. Sie spielte mit dem Gedanken, noch weiter zu kippen, als Mutprobe. Wie leicht es wäre, sich einzureden, sie könnte wirklich fliegen, bis sie nur noch fiel und unten auf dem Beton aufschlug.“ – Leseprobe S. 27 aus dem Roman „Shuggie Bain“
Der Roman „Shuggie Bain“ spielt in den 1980er-Jahren im schottischen Glasgow. In der ehemaligen Industriestadt leiden die Menschen unter der Schließung der Kohleminen und verfallen in Armut, Alkohol und Gewalt. Der Kohlestaub der Minen liegt auf der ganzen Stadt und schafft eine triste, hoffnungslose und graue Gegend. In dieser Szenerie wächst der kleine Shuggie Bain zunächst mit seinen beiden Geschwistern, gemeinsam mit seiner alkoholkranken Mutter Agnes und seinem Vater auf. Agnes Bain ist eine Frau, die wunderschön, traurig und einsam zugleich ist. Sie sieht sich selbst wie ein Filmstar in der trostlosen, grauen Stadt und versucht durch gemachte strahlend weiße Zähne, starkes Make-up und Mohair Mäntel ihren „Glanz zu wahren“. Ihr Mann und der Vater ihrer Kinder, genannt Big Shug, manipuliert und misshandelt sie verbal und körperlich. An erster Stelle stehen für ihn das eigene Ego und das Verfolgen eigener Interessen. Zu Beginn leben beide gemeinsam mit ihren Kindern in einem großen grauen Hochhaus in der kleinen Wohnung von Agnes´ Eltern. Später setzt Shug Agnes und ihre gemeinsamen Kinder in der von der Stadt weit entfernten Arbeitersiedlung Pithead ab und baut sich selbst ein neues Leben mit einer neuen Frau auf. Agnes ist nun alleinerziehende Mutter. Ihre Alkoholsucht bestimmt ihren Alltag und den ihrer Kinder. Nach nicht langer Zeit ist der kleine Shuggie ganz allein mit seiner Mutter und somit der Einzige, der ihren Kampf gegen den Alkohol und den traurigen Gestalten, die durch die Sucht angeschleppt werden, standhalten muss. Shuggie ist nicht wie die anderen Jungen in seinem Alter. Er fühlt sich anders. Heimlich versucht er seine Gangart so zu verändern, dass er „männlicher“ wirkt. Trotzdem findet er keine Freunde, wird gehänselt und gemobbt. Durch die Homophobie der Gesellschaft kommt er mit sich selbst und seiner Sexualität in einen Konflikt. In der Beziehung zu seiner Mutter findet er keinen Halt. Vielmehr hat er sich selbst die Aufgabe gesetzt, sich um seine alkoholkranke Mutter zu kümmern und verliert bis zum bitteren Ende nicht die Hoffnung auf eine schönere Welt mit einer glücklichen und gesunden Mutter.
Die Geschichte Glasgows und der „Glasgow Effect“
Das Schicksal des Shuggie Bains, das Douglas Stuart so detailreich beschreibt, ist eins, welches viele Kinder betrifft. Daten von Public Health Scotland für das Jahr 2019 haben gezeigt, dass 24 % der erwachsenen Schotten einen starken Alkoholkonsum haben. In dem Jahr 2019 wurden 1.020 Todesfälle bedingt durch Alkohol verzeichnet. Das sind ungefähr 20 Todesfälle in einer Woche. Der Begriff „Glasgow Effect“ wird unter anderem von der Zeitung „The Guardian“ genutzt und bezeichnet die auffallend niedrigere Lebenserwartung der Menschen in Glasgow. Besonders Männer sind davon betroffen. Sie leben durchschnittlich circa sieben Jahre weniger als andere im Vereinigten Königreich. Frauen circa vier Jahre. Die Suizidrate der Menschen in Glasgow ist etwa 30 % höher als in anderen Städten im Vereinigten Königreich. Gründe dafür ist die Massenarbeitslosigkeit, Armut, Gewalt und ein hoher Alkohol- und Drogenkonsum.
Die Stadt Glasgow war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Hauptstandpunkt für die britische Waffenindustrie und hatte durch den transatlantischen Hafen eines der wichtigsten Schiffbauzentren aufgebaut. Die Arbeitsmöglichkeiten in den Werften, Stahlwerken und Kohleminen lockten Menschen aus den schottischen Highlands und aus Irland in die Stadt. So bildeten sich am Rande der Stadt slumähnliche Arbeiterviertel, die mit den Jahren immer weiter verfielen. In den 1980er-Jahren gingen durch die Deindustrialisierung die Aufträge immer weiter zurück. Die Werften und Zechen mussten schließen und hinterließen Menschen, die auf diese Arbeit angewiesen waren. Auch durch die politischen Entscheidungen der damaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher kam es zu der schlimmsten Rezession seit den 1930er-Jahren. Der Soziologe Stuart Hall brachte den Begriff „Thatcherismus“ auf. Dieser ist eine Bezeichnung für die konservative und nationalistische Politik Thatchers, die stets eine starke Betonung auf den freien Markt legte. Das Resultat daraus waren die vielen Menschen, die in Arbeitslosigkeit und Armut endeten. (Weitere Informationen hier.)
Über den Autor und Kritik
Der Autor Douglas Stuart ist 1976 im schottischen Glasgow geboren und dort in einer Arbeiterfamilie bei seiner alleinerziehenden, alkoholkranken Mutter aufgewachsen. Er studierte später in London Modedesign und zog im Jahr 2000 nach New York, um dort als Modedesigner für große Marken der Fashionwelt zu arbeiten. 2020 veröffentlichte Stuart sein semi-autobiographischen Debütroman „Shuggie Bain“. Mit dem Roman verarbeitete Stuart seine eigene Kindheit und Jugend mit fiktiven Geschichten und Charakteren. Dafür erhielt er mehrere Preise, unter anderem 2020 den Bookers Prize und den National Book Award. Die deutsche Übersetzung erschien 2021 durch Sophie Zeitz im Carl Hanser Verlag.
Der Roman ist in einem besonderen Schreibstil verfasst. Es ist eine Vermischung der neutralen und auktorialen Erzählweise. Die Perspektive umfasst das kindliche Unverständnis für Situationen und vermischt sich mit einer Abgeklärtheit und Distanz. Trotz dessen erlaubt sie einem das Gefühl, hautnah am Geschehen beteiligt zu sein. So wird es teilweise fast unerträglich, manche sehr erschütternde Passagen zu lesen und sich in die Situation des kleinen Shuggies hineinzuversetzen, der all dies erlebt. Es bleibt genauso wenig Raum für eigene Gefühle und Gedanken, wie Shuggie Platz in der Gesellschaft und in seiner Familie findet. Die Abgrenzung der verschiedenen sozialen Schichten durch die in Schottland gesprochenen Dialekte wurde auch in die deutsche Übersetzung übertragen. Zunächst ist es etwas befremdlich, den Dialekt der unteren Schicht zu lesen, aber schnell entwickelt sich ein Gefühl und Verständnis für die Bedeutung der Sprache im Kontext. Douglas Stuart schafft es Personen, Orte und Szenen sehr eindrücklich und bildlich zu erzählen, sodass man als Leser:in gerne folgt. Diese wunderschönen Beschreibungen verleihen der traurigen Welt etwas Verzauberndes.
Douglas Stuart hat mit seinem Debütroman nicht nur die zutiefst traurige, aber doch auch schöne Erzählung des Schicksals eines Kindes mit einer alkoholkranken Familie geschafft, sondern eine ganze Sozialstudie über die Glaswegians in dem Arbeitermilieu in den 1980er-Jahren. Der Roman lässt einen nicht mehr so schnell los und bringt einen dazu, über die gesellschaftlichen Ungleichheiten nachzudenken. Von der Krosse-Redaktion wird eine klare Empfehlung ausgesprochen, allerdings sollte man sich als Leser:in, der schweren Themen, die behandelt werden, bewusst sein.
Von Johanna Sprave