Mit der Trilogie rund um die Tribute von Panem hat Suzanne Collins ein YA-Meisterwerk geschaffen, das in den meisten Bücherregalen unserer Jugendzimmer zu finden ist. Seit diesem Jahr gibt es eine neue Panem-Geschichte. Wird sie den Erwartungen gerecht?
Katniss Everdeen hat die Kinder- und Jugendzimmer Deutschlands im Sturm erobert. Sie ist die Heldin der Gen Z, so wie Harry Potter einst der Held der Millenials war. Doch schon lange ist es um die Panem-Reihe still geworden. Die Bücher haben den Zenit ihres Erfolges hinter sich und die Filme sind schon längst Teil der gemütlichen Filmabendroutine geworden. Nun aber hat sich Suzanne Collins, die Autorin der berühmten Buchreihe, im Mai zurückgemeldet. Im Prequel „Die Tribute von Panem X: Das Lied von Vogel und Schlage“, so der deutsche Titel, schlägt Collins ein neues Kapitel in der Geschichte Panems auf. Sie erzählt die Vorgeschichte des Präsidenten Snow. Gelingt es Collins, aus einem mordenden Diktator einen glaubwürdigen Teenager-Protagonisten zu machen?
Neues aus Panem
Das Land Panem hat sich von einem verheerenden Bürgerkrieg erholt. Die herrschende Klasse im Kapitol hat die Hungerspiele als Mittel der Unterdrückung des Landes erfunden. 24 Jugendliche werden in eine Arena gesperrt und müssen sich bis zur letzten Person abschlachten. Nun stehen die 10. Hungerspiele an. Im Zentrum der Handlung steht Coriolanus Snow, 18 Jahre alt. Als jüngster Spross der Familie soll er das heruntergekommene Haus Snow in neue Höhen befördern. Er hat kein Geld, ein paar oberflächliche Freundschaften und ist nur darum bemüht, den Schein der Oberschicht zu wahren. Also beginnt, um es vage auszudrücken, ein Hauen und Stechen – im wörtlichen und im übertragenen Sinne.
Die Leiden des jungen Coriolanus
+++ Achtung, ganz leichte Spoiler in diesem Absatz! +++
Drei Beziehung sind dabei von zentraler Bedeutung: Coriolanus Beziehung zu Lucy Gray Baird, eine Tributin aus Distrikt 12, die er als Mentor auf die Arena vorbereiten soll, aber jedoch seinem Opportunismus zum Opfer fallen wird. Dann seine Freundschaft zu Sejanus Plinth, einem Zugezogenen aus Distrikt 2, der für seinen Niedergang und Aufstieg verantwortlich ist, und Dr. Gaul, der Chefspielemacherin, die ihn protegiert. Coriolanus’ Wandel zum skrupellosen Diktator vollzieht sich durch die Parallelentwicklung dieser drei Beziehung. Die komplizierte und durchaus romantische Beziehung sowie Zweckfreundschaft zu Sejanus ist nachvollziehbar, jedoch ist Coriolanus‘ Entwicklung zum überzeugten Machiavellisten – sehr plump hergeleitet durch Dr. Gaul – nicht glaubhaft. Denn den größten Teil der Handlung ist er ein ziemlich normaler Teenager – so normal, wie man in einem vom Bürgerkrieg geschüttelten Land eben sein kann. Bis er einen Aufsatz an seine Lehrmeisterin schreibt – innerhalb eines Absatzes durchläuft Coriolanus eine folgenreiche weltanschauliche Veränderung.
Fazit – lohnt es sich?
Obwohl die Handlung recht linear ist, da nur ein Erzählstrang bedient wird, ist sie packend und unterhaltsam geschrieben. Viele Wendungen sind unerwartet, verlieren aber manchmal ihre Eindrücklichkeit, da von Anfang an klar ist, wie Coriolanus‘ Leben enden muss: Als reicher Diktator von Panem. Dies tritt aber in Anbetracht der Fülle ihres Werkes in den Hintergrund. Ab und zu lässt Collins den Protagonisten die schlimmen Zeit während des Bürgerkriegs, der letztendlich zu den Hungerspielen führte, reflektieren. Zum Beispiel wurden die Nachbarn der Snows, vom Hunger getrieben, zu Kannibalen. Diese kleinen menschlichen Abgründe sorgen für erstaunlich viel Tiefgang.
Das Lied von Vogel und Schlange ist keineswegs ein Buch, das vom Ruhm seiner Vorgänger lebt. Es ist nicht einmal nötig, die Vorgänger zu kennen. Die Geschichte ist kurzweilig und in schlichter Sprache geschrieben, was aber im Falle eines Jugendbuches nicht unbedingt etwas Schlechtes sein muss. Suzanne Collins gelingt es, ein erstaunlich facettenreiches Bild der Gesellschaft Panems zu zeichnen. Das Kapitol war in der Tribute-von-Panem-Reihe mehr Staffage für das Arena-Thema und ist nun in den Vordergrund gerückt. In dieses Sozialdiorama eingebettet ist eine wendungsreiche und überraschende Handlung.
Wer schon die Tribute von Panem kennt oder klassischen Dystopien wie Orwells „1984“ und Huxleys „Schöne neue Welt“ etwas abgewinnen kann, wird dieses Buch mögen und sich schnell in der Handlung zurechtfinden. „Das Lied von Vogel und Schlange“ sollte in allen Buchhandlungen zu hardcover-üblichen Preisen erhältlich sein.
Meine Ausgabe: Suzanne Collins (2020). The Ballad of Songbirds and Snakes. London: Scholastic Children’s Books.
von Kai M. K. Müller