Sie waren zum Greifen nahe, die wenigen freien Pfingsttage, die dem anstrengenden Semester eine wohlverdiente kleine Pause verliehen. Mein Kalender war dieser Tage noch jungfräulich weiß und gänzlich leer als ich meine Freundin anrief: „Filiz, wohin geht’s diesmal?“ fragte ich. „Istanbul“, antwortete sie sofort, woraufhin ich mit „Jau, alles klar“ die Planung schloss. Ja, genau so plane ich meine Reisen – nämlich gar nicht. Filiz kommt aus der Türkei und organisierte uns für die kommenden Tage einen vollen Terminplaner und einen Schlafplatz bei Freunden ihrer Eltern, die ich nicht kannte, deren Begegnung allerdings prägend werden sollte. Doch das wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nicht. Vielmehr war ich mit den Erwartungen an Istanbul beschäftigt. Ich erhoffte mir den Geruch von einheimischen Gewürzen, türkischem Tee und süßem Baklava, Gebetsgesang, Moschee über Moschee und Reizüberflutung durch mehr als 18 Millionen Einwohner. Nie hätte ich gedacht, dass meine Gastgeber maßgeblichen Anteil daran haben werden, dass diese Tage unvergesslich bleiben.
„Ich hab neulich gelesen, dass 69 Prozent aller Gehwege in Istanbul nicht behindertengerecht sind“, erzählt mir Jürgen, mein Gastgeber, bei einem Bier. Wir sitzen im Vorgarten und blicken über die Dächer der 19 Millionenstadt. Der Gebetsruf beschallt sie und erinnert Gläubige an das Abendgebet. Jürgen legt den Kopf in den Nacken, schließt die Augen und lächelt zufrieden. Er liebt den Gebetsgesang, gläubig ist er nicht. Ich ertappe mich dabei, wie ich den Moment nutze um mir den 60-Jährigen in seinem Rollstuhl genauer anzusehen. Mein mitleidiger Blick haftet an den großen Rädern des knallroten Gefährts, das Jürgen seit nunmehr 8 Jahren tagtäglich begleitet. Erst neulich hat er sich dieses, wie er sagt, „Motorrad“ gekauft: einen Rennrollstuhl, mit dem er bis zu 20 km/h fahren kann und seiner Frau bei den täglichen Spaziergängen um Längen voraus ist.„Die Leute gucken immer ganz überrascht, wenn ich damit um die Ecke fahre. Sowas hat man hier noch nicht gesehen“, freut sich Jürgen. Doch auch wenn er mir freudig davon berichtet und die wissbegierigen Augen dabei strahlen, beschleicht mich ein komisches Gefühl. Wenn Jürgen sich routiniert und doch unter großer Anstrengung aus seinem Rollstuhl auf den Essstuhl hievt, schaue ich beschämt und unsicher auf den Boden. „Wie furchtbar“, denke ich und frage mich, ob man so denn glücklich sein kann.
Jürgen und Ayse Seeher lernten sich 1977 auf einer Ausgrabung in der Türkei kennen. Er spielte Gitarre, sie sang. „Ja, mit der Gitarre hat er mich gekriegt“, sagt Ayse und lacht ein junges, noch immer verliebtes Lachen. Ihr warmer, herzlicher Blick ruht auf ihrem Ehemann. Ayse ging mit ihm nach Kiel. Sie hasste die raue kalte Meeresluft des oft so grauen Nordens und war froh über den glücklichen Zufall, der sie beide erst nach Berlin, dann nach Tübingen, für 5 Jahre nach Kairo und letzten Endes wieder in Ayses Heimatstadt Istanbul führte. Hier leben und arbeiten beide seit 1993 am Archäologischen Institut. Auf Ausgrabungen gehen sie nicht mehr. Die Krankheit kam in Schüben und vor zwanzig Jahren. „Trotz großer Forschungsanstrengungen ist die Ursache von Multipler Sklerose noch immer unklar“ erklärt mir Jürgen sachlich und lenkt gekonnt und sicher seinen Rollstuhl durch den schmalen Türrahmen Richtung Küche. Immer wieder sitzt er abends vor dem Rechner und recherchiert neuste medizinische Erkenntnisse – doch die Medizin hat keine Antworten. Später, als die Moskitos und der Hunger uns zurück ins Haus treiben, bereiten wir das Abendessen zu. Ayse singt in der Küche und rührt rhythmisch in den zwei Töpfen vor ihr auf dem Herd, während Jürgen Gläser, Teller und Besteck auf einem Tablett Richtung Esstisch bugsiert.
Die Stimmung ist entspannt und harmonisch – sie sind ein eingespieltes Team. Mir ist dennoch unwohl dabei und ich bin geneigt, ihm die Arbeit abzunehmen. Als Jürgen damals bemerkte, dass sein Körper nicht mehr so funktioniert wie er es einst tat, war er Ende 30 und leitete gemeinsam mit seiner Frau verschiedene Ausgrabungen in der Türkei und Ägypten. Es war schnell klar, dass es sich bei Jürgens Krankheit um Multiple Sklerose handelt, eine Krankheit, bei der entzündliche Entmarkungsherde in der weißen Substanz von Gehirn und Rückenmark entstehen. Da die Entmarkungsherde im gesamten zentralen Nervensystem auftreten können, kann die Multiple Sklerose fast jedes neurologische Symptom verursachen – bei Jürgen sind es die Beine. Weder die Chemotherapie noch andere Behandlungsformen schlugen an. Stressbedingt entstanden stetig neue Schübe, die den Gesundheitszustand von Jürgen weiter verschlimmerten, bis irgendwann der Gehstock seinen Dienst getan hat und ein Rollstuhl angeschafft werden musste. Seitdem hat sich Jürgens Zustand nicht mehr verändert. Wie sich das Krankheitsbild noch weiterentwickeln wird, ist ungewiss.
Wir sitzen im geräumigen, liebevoll eingerichteten Wohnzimmer mit Blick über den Bosporus und essen Pide mit frischen Tomaten und eingelegten Auberginenscheiben vom Markt. Ein großes Eichenholz-Regal im hinteren Eck ist bestückt mit Künstler-Biographien und Ausstellungskatalogen.Die Bücher und Magazine sind auf Englisch, Türkisch und Deutsch. Ayse und Jürgen sprechen alle drei Sprachen fließend. Wann immer sie können, besuchen sie gemeinsam Ausstellungen, gehen ins Museum, verreisen und machen stundenlange Spaziergänge entlang der Küste. In dem schönen, hellen Haus, das auf einem Hügel gelegen ist, deutet nichts auf eine behindertengerechte Einrichtung hin. Weder die Türrahmen sind breiter als gewohnt, noch hängen die Schränke tiefer. Selbst die Toilette ist in üblicher Höhe an der Wand befestigt und verfügt über keinerlei Hilfsmittel. Nur der unauffällige Behindertenaufzug entlang des Treppengeländes lässt es vermuten. Der ausgebaute Dachboden des Einfamilienhaus in Tarabya ist ein großes Gästezimmer. „Wir haben immer viel Besuch“, erzählen Ayse mir fröhlich, „es ist immer etwas los“. Dabei denke ich an meine Ankunft vor drei Tagen und erinnere mich an das volle Wohnzimmer und die wirren, lauten und lachenden Stimmen der Gäste. Auch ich habe mich hier für ein paar Tage eingenistet, um die schönste Stadt der Türkei zu bestaunen. Am Esstisch unterhielten wir uns gerade über das Altern, als Ayse laut nachdenkt: „Früher wurde ich auch immer jünger geschätzt, viel jünger sogar und irgendwann, fast über Nacht, hörte das einfach auf. Vielleicht liegt das an Jürgens Krankheit.“ Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll und sage lieber nichts. Wir unterhalten uns weiter, über meinen Tag, das Wetter, die Stadt und die Unterschiede beider Länder. Das Thema Rollstuhl fällt nicht mehr – ich bin dankbar dafür.
Am nächsten Tag spreche ich Jürgen direkt auf seine Krankheit an. Mein unsicheres und mitleidiges Verhalten vom Vortag beschämt mich selbst noch immer. „Darf ich dich etwas zu deiner Krankheit fragen oder ist das zu intim?“, frage ich und suche eine Antwort in seinen stechend blauen und wachsamen Augen. Er wirkt fast erleichtert und froh über meine Frage und beginnt, mir sein Leben mit der Krankheit zu schildern. Immer wieder suche ich Trauer oder Schmerz in seinem Blick, vielleicht ein wenig Selbstmitleid, feuchte Augen oder wenigstens eine leise Stimme, die verrät: „Das ist unfair, warum ich?“ Als Jürgen mir aber von seinem bunten Leben, den vielen Orten, die er gesehen hat, von der Liebe zu seiner Frau, seinen Ausgrabungen und seinem neuen Motorrad für den Rollstuhl erzählt, hält er immer wieder inne, lächelt zufrieden, wirft den Kopf in den Nacken und grinst spitzbübisch. Wichtig sei es, sich mit der Krankheit zu arrangieren und sein Leben besser zu planen, sagt er. Er hätte sich schon früh mit dem Gedanken beschäftigt, wie lange er noch Ausgrabungen leitet und bis wann er arbeiten wird. Optimistisch sei er, weil sein Zustand seit nunmehr acht Jahren gleichbleibend und er durch den Rollstuhl flexibler als zuvor mit dem Gehstock sei. Er demonstriert die Wendigkeit seines Rollstuhls, dreht und wendet sich. Ayse lacht herzlich und küsst ihren Mann auf die rechte Wange. Ich sitze mit Tränen in den Augen neben ihnen: „Ich weiß nicht, ob man so was sagt“, höre ich mich leise und mit belegter Stimme sagen, „aber es tut mir leid.“ Er dreht sich zu mir und lacht: „Aber warum denn, mir geht es doch gut!“ Und das ist der Moment, in dem ich begreife: Es geht ihm wirklich gut.
Am nächsten Tag brechen Ayse und Jürgen gemeinsam zum Betriebsausflug des Deutschen Archäologischen Instituts auf. Jürgen hat sein neues „Motorrad“ mitgebracht und war mit einer Spitzengeschwindigkeit von 18 km/h schneller als der Rest der Gruppe. Und damit auch alles zusammenpasst, hat Ayse ihm am Vortag ein Harley Davidson-T-Shirt gekauft.
Anna Siewert