Wer Till Lindemann sagt, muss auch Rammstein sagen? Nein. Denn da gibt es noch sein Solo-Projekt Lindemann, das Till Lindemann mit seinem Bandkollegen Peter Tägtgren als kreative Spielwiese nutzt und jetzt wurde das zweite Album veröffentlicht.
Nach der ersten Phase der Rammstein-Tour macht Till Lindemann keinen wohlverdienten Urlaub. Stattdessen veröffentlicht er sein zweites Lindemann-Album und kündigt auch noch die erste Lindemann-Tour für kommendes Jahr an. Rammstein Fans schweben im siebten Himmel, könnte man zumindest meinen. Lindemann ist aber nur bedingt eine Alternative zu der gewaltigen Musik von Rammstein. Die Melodien sind facettenreicher und Lindemann legt sich nicht auf ein Genre oder einen Rhythmus fest. Und wer das Theaterstück “Hänsel und Gretel” des Thalia Theaters letztes Jahr in Hamburg gesehen hat, wird einige der Stücke auf dem neuen Album kennen. Denn für die Inszenierung hat Till Lindemann den Soundtrack geschrieben und einige dieser Lieder sind auch auf dem neuen Lindemann-Album.
Provokation ist Pflicht
Die ersten veröffentlichten Singles des neuen Albums sorgten teilweise für Aufregung in den Medien. Gemeint ist natürlich das Musikvideo zu “Knebel”, in dem Till nicht nur Oralverkehr mit einer menstruierenden Frau hat, sondern auch einem (scheinbar) lebenden Aal den Kopf abbeißt. Die Provokation ist geglückt, wirkt aber etwas stumpf und zu gewollt. Das zieht sich auch durch einige Songs durch. Besonders “Allesfresser” bleibt unter den Möglichkeiten des poetischen Könnens von Till Lindemann. Zeilen wie “Ich esse, esse, esse, esse / Stopf mir alles in die Fresse” wirken wie die ersten Reimversuche eines rebellischen Teenagers. Auch die Motive der Lieder bleiben nicht nur unter ihren Möglichkeiten, eigentlich sind sie für einen Till Lindemann sogar recht einfallslos. Es geht um Ekel, Fetische, Frauen und Gewalt, alles schon hundert Mal abgehandelt bei Rammstein und dem letzten Lindemann-Album. Und eine kleine Enttäuschung wartet dann noch am Ende des Albums: “Mathematik” ist von Till alleine eingesungen und nicht wie vorher mit Haftbefehl, was die vorherige Message des Liedes komplett entkräftet und ihm das Besondere nimmt.
Ja, der Mann kann singen!
Aber das Album macht trotzdem viel Spaß. Vor allem die verschiedenen Rhythmen und Melodien bringen Abwechslung. Von Tango, über Indie-Rock bis Akkustik und natürlich Metal-Klängen ist alles zu hören. Und Till Lindemann beweist wieder einmal, dass er sehr wohl singen kann. Vor allem in “Wer weiß das schon” und “Schlaf ein” singt er sich die Seele aus dem Leib. Und eben diese Seele findet man in den Texten wieder, auch wenn manche Provokationen stumpf daher kommen. Er besingt Einsamkeit, Selbstzweifel und kritisiert mit “Platz eins” die Branche der Chartmusik. Lindemann ist nicht so hart wie Rammstein und zeigt mehr Facetten von Musik. Die beiden Musiker probieren sich aus und lassen ihrer Kreativität freien Lauf, was das Album zu einer Überraschungstüte machte, die die gewohnte Härte ausgespuckt, aber auch weiche Töne hervorgebracht hat.
Musikvideos à la Rammstein
Auch die Musikvideos sind intelligent und liebevoll produziert. Spannend ist vor allem der Auftritt von Peter Stormare in dem Video zu “Steh auf”, der wohl vielen als der Bösewicht Abram Tarasov aus John Wick 2 bekannt sein dürfte und natürlich das gemeinsame Video mit Haftbefehl, der eigentlich in “Mathematik” eine Strophe rappt. Auch das Video zu “Knebel” ist neben den offensichtlichen Provokationen gut produziert. Alle Videos zeigen Parallelen zu vorherigen Musikvideos von Rammstein, denn der Regisseur Zoran Bihać produziert für beide Bands. Fans von Till Lindemanns Hauptband werden sich in den Videos also zuhause fühlen.
Till Lindemann kann nicht nur Rammstein
Auch wenn nicht alle Texte poetische Meisterwerke sind und nicht alle Provokationen so intelligent platziert und genutzt werden, wie es möglich wäre, ist “F & M” ein Album, das den Namen Lindemann mit Stolz tragen kann. In den Songs findet man Satire, Witz, Kritik aber auch Ernst und den guten alten Ekel. Wer Tickets für die Tour bekommen hat, kann sich auf jeden Fall freuen und vielleicht bringt Till ja auch seinen Flammenwerfer mit.
von Merle Oßmer
Bild: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Lindemann_logo.svg