Ein Leben ohne Plastik ist kaum noch vorstellbar.
Plastik ist praktisch. Plastik ist leicht, vielseitig einsetzbar. Plastik ist omnipräsent. Plastik ist böse.
Nein, neu ist das nicht.
Umso dramatischer aber, dass der Bedarf an Kunststoff weiter wächst. Die Meere sind voll mit Plastik und werden von sogenannten „Garbage Islands“ (Müllinseln) geziert, in Tierkadavern finden sich unzählige Plastikstücke, die Tiere fälschlicherweise für Nahrung hielten und selbst im menschlichen Organismus findet sich Mikroplastik. Könnte Mutter Erde sprechen, hätte sie uns sicherlich schon längst eine Standpauke gehalten. Warum Politik, Wirtschaft und EndverbraucherInnen ihren Plastikkonsum unbedingt ändern müssen, erzählt euch KROSSE.
Neulich im Supermarkt. Ich stehe etwas gedankenverloren in der Gemüseabteilung und krame in meinem Kopf nach den Lebensmitteln, die ich für meine indische Gemüsepfanne brauche – den Einkaufszettel habe ich praktischerweise auf meinem Schreibtisch liegen gelassen – als ein älterer Herr vor mir seine drei Champignons, die fünf Äpfel und zwei Karotten jeweils in eine Plastik-Gemüsetüte packt und damit zur Waage geht.
Erst kürzlich habe ich den Dokumentarfilm „Plastic Planet“ gesehen, der die Folgen unseres katastrophalen Plastik-Konsums thematisiert und mir seither geschworen, nicht nur meinen eigenen Plastikmüll aufs Minimalste zu reduzieren, sondern auch mein Umfeld auf die verheerende Plastik-Katastrophe aufmerksam zu machen. Als dieser Mann also freudig lächeln sein Gemüse abwiegt, muss ich mich daher schon sehr bemühen, mich nicht vor ihm aufzubauen, auf und ab zu springen und ihm kampfzwerg-artig entgegen zu brüllen: „HAST DU NOCH NIE WAS VON GARBAGE ISLAND GEHÖRT?“.
Aber nein. Spätestens die Ärzte haben mich belehrt, dass Anschreien keine Lösung ist.“Gewalt erzeugt Gegengewalt, hat man dir das nicht erzählt“, trällere ich leise vor mich hin, schlendere ein wenig unsicher zu ihm rüber und druckse so vor mich her: “Ähm… also…ähhh, entschuldigen Sie, aber warum… also, ich meine, warum packen Sie denn ihr Gemüse einzeln in Plastiktüten? Sie wissen doch sicherlich, dass sich Plastik nur sehr schlecht abbauen lässt und…ich mein, …das ist doch voll die Umweltverschmutzung…“
Völlig entsetzt schaut er mich an und ich bin unsicher, ob er gleich mit seinem Regenschirm nach mir ausholt und ich besser das Weite suchen sollte, als er völlig überraschend sagt:
„Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Sie haben ja so recht. Dankeschön“. Sein restliches Gemüse wiegt er plastikfrei ab und verschwindet dann hinter den Regalen richtung Kasse, von wo aus er mich noch einmal dankend anlächelt.
Ein wenig peinlich berührt über meinen moralischen Zeigefinger, aber irgendwie auch glücklich über meinen Mut und seine Reaktion, gehe ich nach Hause, beauftrage meine Mitbewohnerin für mich das Kochen zu übernehmen und setze mich an den Rechner. Ich will wissen, wie schlimm es um Mutter Erde wirklich steht.
Die Zahlen, die ich dort lese, sind schockierend. 200 bis 250 Millionen Tonnen Plastik werden jährlich produziert. Ein knappes Viertel davon allein für den europäischen Raum, wobei Deutschland mit mehr als 19 Millionen Tonnen Spitzenreiter im europäischen Vergleich ist.
Unglaublich erscheinen mir diese Zahlen. Und noch unglaublicher, dass der Großteil der Kunststoffproduktion mit 35% für Verpackungsmaterialien drauf geht. Allein 6 Milliarden Plastiktüten werden jährlich von EndkonsumentInnen verbraucht – Tendenz steigend. Dabei haben insbesondere Plastiktüten eine Nutzungsdauer von nur 25 Minuten und eine Lebensdauer von 450 Jahren.
Und weil diese ganzen Zahlen so groß und so unbegreiflich sind, noch einmal anschaulicher: Die Menge an Kunststoff, die wir seit Beginn der Kunststoffproduktion produziert haben, reicht aus, um den gesamten Globus ganze sechs Mal mit Plastikfolie einzupacken. So lustig dieser anschauliche Vergleich im ersten Moment auch sein mag, er verdeutlicht unseren rücksichtslosen und egoistischen Umgang mit diesem Planeten.
Plastik, Plastik, Plastik – wohin wir schauen
Jeder von uns ist alltäglich und ständig mit Plastik in Verbindung. Egal, ob wir am Laptop auf unsere Kunststoff-Tastatur eindreschen, im Supermarkt die Gurke inklusive Ganzgurkenkondom kaufen oder einen neuen Bikini aus Polyester kaufen. Plastik ist omnipräsent und kaum zu vermeiden. Obwohl insbesondere in den westlichen Staaten der Plastikkonsum am höchsten ist, sind wir auf den ersten Blick mit den verheerenden Konsequenzen unseres dekadenten Lebensstils am wenigsten betroffen. Mülldeponien finden sich meist am Stadtrand, unsere Straßen werden vom Mülldienst und Reinigungsunternehmen sauber gehalten und unsere Strände sind noch lange nicht so sehr betroffen wie es die anderer und meist sehr viel ärmerer Regionen ist.
Im maledivischen Inselstaat zum Beispiel befindet sich nahe der Hauptstadt Male eine ganze künstlich erschaffene Insel, die als Mülldeponie dient. Plastikstühle, Plastikflaschen, Plastikmüll und Plastikspielzeug verschmelzen hier zu einem riesigen Plastikberg von der Größe einer Insel. In diesem völlig vergifteten Areal haben sich seit 2008 22 Unternehmen mit ihren MitarbeiterInnen angesammelt. Die Konsequenz dieser Müllinsel für Mensch, Tier und Erde ist noch nicht abzuschätzen, dramatisch ist sie in jedem Fall.
Laut einer Studie werden jährlich mehr als 6 Millionen Tonnen Müll ins Meer geführt, ein Großteil davon Plastik. In Meereswirbeln bündelt sich dieser Müll zu richtigen Müllinseln. Hier wird das Plastik durch Wind, Salz, Sonne und mechanische Kräfte zerkleinert und kann somit nicht mehr aus dem Wasser entfernt werden.
Die wohl bekannteste dieser Müllinsel heißt „Garbage Island“ oder auch „North Pacific Gyre“, liegt im Nordpazifik und umfasst die Größe des Bundesstaates Texas. Aber auch im Südpazifik, im Atlantik und im Indischen Ozean finden sich mittlerweile karussell-artig rotierende Müllberge.
Das zersetzte Kleinplastik wird von Fischen fälschlicherweise für Nahrung gehalten. Ihre Mägen fühlen sich wohlig voll an, weswegen sie zu wenig Nahrung zu sich nehmen und nicht selten verhungern. Mehr als 136 Arten und mehr als 100 000 Tiere sind jährlich betroffen. Auch größere Meerestiere wie Robben oder Schildkröten bleiben regelmäßig in Plastikgegenständen, wie Getränkekisten, hängen und verenden qualvoll. Über eine Million Seevögel, wie zum Beispiel Albatrosse, verfüttern unwissend die Plastikteile an ihre kleinen Küken, die daran sterben.
Aber auch im menschlichen Organismus findet sich mittlerweile Plastik. Durch die Luft, über die Haut und vor allem über Lebensmittel gelangt Mikroplastik in den menschlichen Körper und verursacht laut diverser unabhängiger Studien Krebserkrankungen, Fettleibigkeit und Unfruchtbarkeit.
Schockiert und fassungslos klappe ich den Laptop zu, lasse mich in der Küche auf einen Stuhl fallen und zünde mir eine Zigarette an. Tief ein und ausatmend sitze ich einfach nur da und sehe mich um – vor mir eine große Plastiktüte mit einzeln in Plastik verpackten Lebensmitteln.
Es ist nicht so, dass es sich bei meiner Recherche um völlig neue Informationen handelt. Es ist vielmehr so, dass sie alt und bekannt sind, wir alle darum wissen, dass sich aber dennoch nichts tut und auch ich nichts tue. Das wird mir in diesem Moment klar.
Denn es ist Augenwischerei, wenn wir uns darauf berufen, dass insbesondere in Deutschland viel recycelt wird, da es sich nur um bestimmte Kunststoffe handelt, der Bedarf an Kunststoff weiter ansteigt und außerdem viele Produktionen ins Ausland verlegt werden, wo nicht recycelt wird. Es ist naiv zu glauben, nur weil Frankreich Mitte 2014 ein Plastiktüten-Gesetz verabschiedet hat und die EU hin und wieder das Thema „Verschmutzung der Meere“ anspricht, wir in Europa auf einem guten Weg sind und es ist ignorant und falsch Bangladesch, China und Indien zu rügen, sich besser um ihr Plastik-Dilemma zu kümmern, wenn ein Großteil der Kunststoffprojekte weltweit für den europäischen Raum produziert wird.
Wir alle müssen unseren Plastikwahn besser gestern als heute beenden, bewusst konsumieren und andere darauf hinweisen.
Dass das geht und vorallem wie das geht zeigt zum Beispiel die Familie Krautwaschl, die seit einigen Jahren plastikfrei lebt. Auf ihrer Internetseite finden sich unzählige Tipps und Tricks, wie sich Plastik-Konsum vermeiden lässt – von Jutebeutel statt Plastiktüte bishin zu AnbieterInnen für plastikfreie Zahnbürsten. Aber auch andere Plattformen bieten zahlreiche Foren zum Austausch für PlastikgegnerInnen und solche, die es einmal werden wollen. Auf einer weiteren Internetseite findet ihr alltagstaugliche Tipps und Anregungen, die sich kinderleicht in euren Alltag integrieren lassen und dessen Umsetzung ziemlich simpel ist. Außerdem findet ihr auf der Seite einige wichtige und unterstützenswerte Initiativen, die dem Plastik den Kampf angesagt haben. Möglichkeiten, Anlaufstellen und Alternativen gibt es genügend – lasst sie uns nutzen und zu eigen machen.
Wütend über das, was ich die letzten Stunden gelesen habe, fahre ich noch einmal in den Supermarkt – ich hatte Mangold vergessen. In der Gemüseabteilung beginnt eine junge Frau mehrere Plastiktüten von der Gemüsetüten-Rolle abzureißen und ihren Einkauf einzeln einzupacken. In mir brodelt es und ich stapfe mit festem Schritt auf die Einkäuferin zu, baue mich vor ihr auf und brülle ihr entgegen:
„HAST DU NOCH NIE WAS VON GARBAGE ISLAND GEHÖRT?“
Anna Siebert