Ich treffe mich an einem Nachmittag mit Raaid. Wir trinken Tee und reden. Ich kenne seine Geschichte aus Nebensätzen, die er mal hier und da fallen ließ seitdem wir uns zufällig kennen gelernt haben. Wenn ich nachhakte, wurde er oft sehr ernst. Raaid ist 24. Im Jahr 2013, mit 20 Jahren, flieht er aus Raqqa, Syrien über die türkische Grenze. Er flieht vor dem IS, wie viele andere Menschen es schon vor ihm getan haben oder noch tun werden.
„Das ist jetzt 5 Jahre her. Da hätte ich noch nicht gedacht, dass ich hier mal sitze und darüber erzähle.“ Raaid lächelt. Ich frage ihn, welche Gefühle und Erinnerungen er mit Raqqa verbindet. Es sind seine Familie und seine Freunde an die er oft denkt und an tolle Momente an tollen Orten, die er in Syrien besucht hat.
Jugend, Freundschaften, Demos und der IS
Als er älter wird, ist sein Freundeskreis und sein Leben von Demonstrationen und Diskussionen geprägt, die er mit Gleichgesinnten führt. „Ich habe viele Leute auf diesem Weg getroffen. Das ist das letzte und größte was ich mit Raqqa verbinde. Unsere Aktionen dort.“ „Ihr habt gegen den IS demonstriert?“, möchte ich wissen. „Ja, gegen den IS und vorher gegen Assad. Seit 2011.“ Die Stimmung im Raum verändert sich und wird ernster, während er erzählt. Ich beginne darüber zu grübeln, wie ein Alltag aussieht, bei dem sich eine Gruppierung wie der IS langsam in der Stadt ausbreitet. „Wo und wann war dein erster Berührungspunkt mit dem IS, Raaid?“ Er stockt nicht lange: „Am 11.06.2013.“ Es wurde darüber geredet, dass Leute in der Stadt Werbung machen mit einem Stand woraufhin Raaid und andere politisch engagierte und interessierte Leute dort hingegangen sind. „Wir wollten einfach wissen, wer sie sind und was sie wollen. Sie antworteten, sie seien ISIS, die neue Regierung hier und wollen einen Islamstaat aufbauen.“ Raaid lacht auf. „Wir sagten natürlich, dass sei totaler Quatsch. Hier wohnen noch andere Menschen, die das nicht wollen. Das klappt nicht… Ab da haben wir angefangen Plakate zu machen und Aktionen zu planen um zu zeigen, dass wir dagegen sind. Wir sind immer auf Demos gegangen.“
„Wer seid ihr eigentlich unter der Maske?“
Raaid wurde bei einer Demo am 1.9.2013 verhaftet. Es ging um das Stadtamt in Raqqa. Die dort für die Bürger öffentlich zugänglichen Computer wollte der IS rausholen und verkaufen. Eine Beschneidung der Freiheit der Bürger. Raaid war einer der Gegner, die die vermummten Leute des IS davon abhalten wollten. Er erzählt, dass er geschlagen wurde und sich eigentlich immer die Frage stellte „Wer seid ihr eigentlich unter der Maske?“. Er und drei weitere Freunde wurden an dem Tag von dem IS verhaftet und für eine Woche eingesperrt. Ich sitze vor ihm und habe viele Fragen. Ich kann es mir einfach nicht vorstellen, wie es ist, einen Alltag neben dem IS zu verbringen. Wer waren diese Leute für Raaid in seinem Alltag? Wie war das, wenn man morgens raus gegangen ist und sich mit Leuten getroffen hat und dort waren Leute von dem IS? Wo sind da die Berührungspunkte? „Am Anfang war alles locker und normal“, beginnt Raaid zu erzählen, „Man konnte sich in der Stadt frei bewegen und machen was man will. Aber ab Juni wurde immer mehr verboten und manche Leute bekamen Probleme mit dem IS. Der IS hat sich vergrößert, es haben sich mehr Leute angeschlossen. Sie haben immer mehr kontrolliert und beobachtet. Am Anfang gab es auch Militär das sich gegen den IS gestellt hat. Aber mit der Zeit hatte der IS immer mehr Macht und gleichzeitig haben sie die anderen Soldaten verhaftet und Druck ausgeübt. Es wurde enger.“ Zu dieser Zeit verbot der IS den Menschen das Rauchen auf der Straße und machte auf „nicht angemessene Kleidung“ aufmerksam. Manche Menschen haben sich vom IS täuschen lassen oder haben sich aus Angst unterworfen.
„ … warte ein paar Monate, bis der IS nicht mehr so viel Macht hat…“
Nachdem Soldaten des IS nach Raaid gesucht haben, bei seiner Mutter nach ihm gefragt haben, hat diese gesagt: „Du musst hier schnell weg!“ Raaid hatte keine Flucht geplant, er musste zu seiner eigenen Sicherheit fliehen, von einem Tag auf den anderen. „Sonst wäre ich das nächste Mal wieder verhaftet worden und vielleicht bis heute nicht draußen oder getötet worden.“ Mit einem Rucksack in einem Auto fährt seine Mutter ihn am nächsten Tag durch die Stadt hindurch zur türkischen Grenze. Sie umgehen die in der Stadt errichteten Grenzen um dem IS zu entgehen. Um 16 Uhr betritt er die Türkei. „Ich dachte, ich verlasse Syrien und warte ein paar Monate, bis der IS nicht mehr so viel Macht hat und gehe dann auf jeden Fall zurück nach Raqqa.“ Raaid war noch nicht bewusst, dass seine kurzfristige Flucht, ein Weg in ein ganz neues Leben sein wird. „Ich habe anfangs gedacht, die sind einfach eine Gruppe, die auch wieder verschwindet und ich dann wieder nach Raqqa kann. Ich glaube, viele Leute wurden von ihnen überrascht. Auch die Politik. Der IS hat nichts schönes, neues aufgebaut, sondern Leute umgebracht.“
„ …von zwei Freunden die damals mit mir verhaftet wurden, habe ich nie wieder etwas gehört…“
Nach einigen Monaten wird Raaid klar, dass er sich in einer Art illusionierten Wartehaltung befindet und dass es so nicht weitergehen kann. Er beginnt an der Grenze zu Syrien zu arbeiten. Er hilft dort Leuten, die wie er auch, über diese Grenze vor der Gewalt in Syrien flüchten. Mit weiteren freiwilligen Helfern verteilt er dort Decken, Kleidung und Essen. 2 Jahre lang. 2015 verlässt er die Türkei mit einem Schiff in Richtung Griechenland. Von dort aus geht es mal zu Fuß, mal mit Bussen über Mazedonien, nach Serbien, weiter nach Ungarn und dann nach Österreich, Wien. „An der Grenze zu Ungarn war es gefährlich. Dort war viel Militär. Wenn man dort rüber will, nehmen die deinen Fingerabdruck und man kommt vielleicht nicht weiter. Wir haben 2 Tage gezeltet.“ Zwei Tage lang hat die Gruppe von 20 Leuten zusammen gezeltet und gewartet. Die letzten 10 Stunden ohne Wasser und Essen. Aus Angst Geisel ihres Fingerabdrucks in Ungarn zu werden und ohne weitere Möglichkeiten dort im Flüchtlingslager festzusitzen, bezahlte Raaid einem Ungar 600 Euro und wird von ihm in seinem Auto über die Grenze geschleust. Über Österreich kommt er nach Deutschland. Seine erste Anlaufstelle ist mit vielen anderen zusammen: Berlin. Er will eigentlich weiter in die Niederlande und vorher noch einen Freund besuchen in Bremen. Bremen bleibt sein vorerst letzter Stop. Hier macht er seinen Deutschkurs, hat währenddessen seine Aufenthaltsgenehmigung bekommen und ist motiviert. „Am Anfang war es, ehrlich gesagt, schwierig für mich. Vieles kompliziert. Ich hatte Angst, dass ich es nicht schaffe. Ich kannte die Sprache nicht und kaum Leute.“ Raaid ging zum Sport, Kunst- und Kulturevents und beobachtete. Er wollte Leute kennen lernen und verstehen, wie hier gelebt wird und teilhaben. Heute, etwa 2 Jahre später, hat er viele Freunde und Bekannte, er liebt sein Capoeiratraining und will soziale Arbeit studieren. Das ist möglich, wenn er den Deutschkurs besteht. Ihm geht es gut. Seine Gedanken sind trotzdem noch oft in Syrien und abgeschlossen hat er nicht mit dem, was dort passiert ist und immer noch passiert. „Von 2 Freunden, die damals mit mir verhaftet wurden, habe ich nie wieder etwas gehört. Keiner weiß, was mit ihnen passiert ist.“ Diese eine naheliegende, traurige Möglichkeit bleibt über dem Tisch hängen, an dem wir uns gegenüber sitzen. „Ich will mir was Schönes aufbauen, studieren, arbeiten und Dinge bauen. Ich kann meine Zukunft nicht so genau planen. Aber ich will irgendwann, danach, wieder zurück nach Syrien, nach Raqqa und dort was aufbauen für die Menschen. Ich war da noch nicht fertig.“
Leonie Lang
Foto: KROSSE