Am vergangenen Samstag fand der Eurovision Song Contest im kuscheligen Kopenhagen statt und Conchita Wurst sang sich mit Bart zum Sieg. Die Dragqueen ist gerade das Gesprächsthema – doch warum eigentlich?
Während die Presse den Sieg von Conchita Wurst (alias Thomas Neuwirth) beim ESC 2014 als Botschaft der Liebe, Toleranz und (so könnte man meinen) des Weltfriedens deutet, so war es vielmehr die Mischung aus hübsch-weiblichen Gesichtszügen, dicht-dunklem Fastvollbart und gutem Song, die dem Travestiekünstler Thomas Neuwirth zum Sieg verhalfen. Man könnte jetzt von den 8 Punkten aus Russland sprechen, die die Televoter Österreich gegeben hätten, wenn nicht die Jury noch ein Wörtchen mitzureden gehabt hätte, und auch von der Gesamtpunktzahl Conchitas, die sich durch das Wegfallen einer Jury noch erhöht hätte. Aber die allermeisten machen sich doch eher über sie lustig. Wenn man sich ein wenig mit ihr beschäftigt, so wird offensichtlich, dass eigentlich viel mehr dahinter steckt als Bart, Song und gute PR. Klar, es war auch die Aufregung im Vorfeld, die Anfeindungen konservativer Politiker aus ihrem Heimatland wie auch Osteuropas. Doch gerade ihr sicheres Auftreten gegen solche Angriffe von Außen und ihr toleranter, nicht ausfallender Umgang damit, zeigt ihre Größe. Auf Facebook antwortete sie, es würde auch in der näheren Umgebung der Angreifenden mit Sicherheit Menschen geben, die anders sind. Heute gehe es darum – auch im eigenen Interesse ihrer Gegner – mehr Toleranz zu beweisen und sich gegen Diskriminierung einzusetzen. Deshalb war es nur äußerst geschickt, den Bart in ihrer Rolle als Conchita Wurst als Mittel einzusetzen: nämlich um auf sich und die Vorbehalte im Umgang mit sexuell anders Orientierten hinzuweisen. Die Gesichtsbehaarung war von ihr als Provokation gedacht und ist genau dafür perfekt. Man kann diesen Bart einfach nicht übersehen. Beim ESC trug sie ihn natürlich auch: Sie zeigte allen, die sie noch nicht kannten, dass sie eben keine zierliche Frau ist (denn für diese könnte man sie ohne Bart durchaus halten), sondern eine Dragqueen. Und damit – wenn es nach Wikipedia geht – erfüllt sie alle Anforderungen, die an diese Art der Kunst gestellt werden, wenn nicht sogar noch mehr: sie ist ein Mann, verhält und kleidet sich aber wie eine Frau und führt damit unsere zum Teil festgefahrenen Rollenbilder ad absurdum. Gerade weil Thomas Neuwirth als Mann schon androgyn anmutet, durch Kleidung und Verhalten verstärkt, ist der Bart ein guter Trick, um der Aufgabe des „Aufzeigen[s] einer Art dritten Geschlechts“ (Wikipedia) gerecht zu werden.
Conchitas ESC-Auftritt
https://www.youtube.com/watch?v=SaolVEJEjV4
Und auch der humoristische Umgang mit Conchita als Gewinnerin kann nicht schaden: The Sun vergleicht sie mit Kim Kardashian, Russel Brand verwechselt sich mit ihr und in den Supermarktregalen liegt bereits die Conchita-Wurst-Wurst. In diesem Sinne: Guten Appetit und weiter so!
Der bittere Beigeschmack
Wie Barbara Schöneberger direkt im Anschluss zum Hauptprogramm zweifelsfrei feststellen musste, war der diesjährige Songcontest offensichtlich das politische Sprachrohr der breiten Masse in Europa. Der musikalische Aspekt der Veranstaltung rückte deutlich in den Hintergrund (obwohl sich anzweifeln lässt, ob dieser jemals im Vordergrund stand), denn plötzlich ging es nicht mehr nur um Musik und eine ansprechende Bühnenperformance mit viel Pyrotechnik und ordentlich Konfetti. Als Conchita schließlich ihre James Bond angehauchte Ballade „Rise Like A Phoenix“ förmlich hinausschmetterte, gab es im Publikum bereits kein Halten mehr. Und wie im Vorfeld bereits spekuliert wurde, sollte der Auftritt nicht nur aufgrund des musikalischen Aspekts für Furore sorgen. Es drehte sich nunmehr um die Toleranz und Akzeptanz von Schwulen, Lesben und Transsexuellen. Daran ist auch absolut nichts auszusetzen, denn ein solches Verhalten ist vor allem löblich und modern. Trotzdem konnten einem die zwei russischen Zwillinge, die bei der Punktevergabe schonungslos ausgebuht worden, besonders leid tun. Wäre es nicht naiv anzunehmen, dass zwei junge Mädchen ausgerechnet für die politischen Entscheidungen ihres Präsidenten verantwortlich gemacht werden? Die Staatsangehörigkeit zu wechseln wäre wohl doch etwas zu viel des Guten. Kommen wir nun aber zum bitteren Beigeschmack der ganzen Geschichte.
Wie auch in den Vorjahren war in den sozialen Netzwerken die Hölle los und so manch wilde Diskussion wurde im quasi öffentlichen Tagebuch Twitter entfacht. Denn in der heutigen Zeit ist die öffentliche Debatte über die Begriffe der Homophobie und der Intoleranz besonders im Internet mit Vorsicht zu genießen. Wenn man nicht schnell auf den Zug aufspringt und mit der Masse zusammen feiert, so wird man schnell zum intoleranten Außenseiter. Ein echtes Dilemma, das sich spätestens zeigte, als die Bewertungen der deutschen Jury veröffentlicht worden. Dort hatte man den Auftritt der Siegerin Conchita Wurst nur mit dem 13. Platz bewertet. Besonders im Fokus stand plötzlich die jüngste Jurorin Madeline Juno, die Conchita ebenfalls mit dem 13. Platz bewertete. Aus musikalischer Sicht ist diese Bewertung für jeden Menschen, der nicht bereits einen Hörsturz erlitten hat, absolut nachvollziehbar. Doch ein kleiner Teil der geistigen Elite, die sich vorwiegend auf Facebook tummelt, sah diese Entscheidung mit ganz anderen Augen. Aus der Bewertung wurde ein handfester Skandal gemacht, der vor offensichtlicher Intoleranz und Homophobie nur so strotzen würde. Und da die sozialen Netzwerke mittlerweile besonders gut als Anlaufpunkt für verbale Angriffe auf Personen taugen, bekam die junge Jurorin dies in voller Härte zu spüren. Der Anwalt ist schon eingeschaltet, denn die Bild Zeitung hat Thomas Hitzlsperger zu seiner aktiven Zeit mal mit der Note 6 bewertet. In anderen Worten: schaltet mal einen Gang runter und begegnet den Menschen im offenen Dialog, denn die Meinung oder Bewertung des Gegenübers zu akzeptieren ist ebenfalls ein Zeichen der Toleranz.
Paul Fenski & Jean-Luc Pignon