Es ist soweit. Der Startschuss zur FIFA Fußball Weltmeisterschaft im temperamentvollen Brasilien ist gefallen. So heißt es auch in diesem Jahr wieder für viele Deutsche: Flagge zeigen! Doch einige Menschen beäugeln das Hissen der Deutschlandfahne eher mit gemischten Gefühlen. In unserem Krossdenker der Woche versuchen wir euch das teils kontrovers diskutierte Thema ein bisschen näher zu bringen.
Sie geht wieder los. Die alte Leier mit den Nationalflaggen zur Welt- und Europameisterschaft. Ich begegne diesem Thema eigentlich mit absoluter Gleichgültigkeit, denn ob Menschen ihre Häuser mit Deutschlandfahnen einwickeln oder eine trendige Autofahne an ihrem Fahrzeug befestigen, tangiert mich nicht besonders. Ich beobachte allerdings mit Hingabe einige wilde Diskussion, die vorwiegend im neumodischen Medium Internet geführt werden, über die Problematik mit der Deutschlandfahne am Fenster.
Je mehr ich davon lese, desto mehr Fragen türmen sich in meinem Kopf auf. Darf man als Deutscher überhaupt noch eine Fahne aus dem Fenster hängen lassen, ohne direkt mit rechtem Gedankengut in Verbindung gebracht zu werden? Darf man als Deutscher überhaupt stolz auf sein Herkunftsland sein? Böse Zungen behaupten, dass der Stolz auf seine Nation offensichtlich im Vordergrund steht, sobald man eine Fahne hisst. Man muss zugeben, dass Nationalstolz in Deutschland immer ein äußerst heikles Thema ist. Im Internet kursieren Gerüchte, dass ein Großteil der Fahnenliebhaber auch einen Fliesentisch im Wohnzimmer stehen haben.
Nichtsdestotrotz gehe ich fest davon aus, dass Flagge zeigen zu einer sportlichen Großveranstaltung absolut legitim ist. Man darf nicht vergessen, dass die Unterstützung aus der Heimat auch für die Mannschaft vor Ort eine übergeordnete Rolle spielt. Dass die Fußball Weltmeisterschaft mittlerweile keine rein sportliche Veranstaltung mehr ist, sondern immer auch eine politische, wie sich seit Monaten im Gastgeberland Brasilien zeigt, ist sicherlich nicht zu leugnen. Jemandem mit einer Deutschlandfahne allerdings zu unterstellen, er würde dadurch Nationalstolz produzieren, der unbedingt zu verurteilen ist, der übertreibt vielleicht ein bisschen mit seiner politischen Gesinnung.
Die einzige Fahne, die ich zur Weltmeisterschaft hisse, wird allem Anschein nach die Bierfahne sein. In diesem Sinne bleibt dieses Thema für mich eine Art Mysterium, da es für mich eine Debatte ist, die nicht stattfinden müsste. Und obwohl es eigentlich weder Pro noch Contra geben sollte, erfahrt ihr im zweiten Teil, wie mein zusammengewürfeltes Kauderwelsch auseinandergenommen wird.
Patriotismus? – Nein danke!
Haben wir nicht alle drauf gewartet? Hat nicht jeder von uns diesen Moment ersehnt, endlich endlich wieder die Deutschlandflagge um das sonst so triste Metallgeländer unserer Balkone wickeln zu können? Schmeckt das Dosen-Billigbier in Schwarz-Rot-Gold nicht gleich viel besser? Haben wir es nicht auch nach all den Jahren verdient, stolz auf „unser Vaterland“ sein zu dürfen? Und sind nicht sowieso endlich alle wieder besser drauf, wenn sie oberkörperfrei und mit Deutschlandflagge um die Lenden taumelnd durch die Straßen laufen?
Ähm, … NEIN!
In den Augen vieler Fußball-Fans wirken Patriotismus-KritikerInnen wie Miesmacher und Spielverderber, denn Kritik am postmodernen Fußball-Patriotismus zu üben, ist insbesondere in der Vor-Fußballmeisterschafts-Zeit ein „No-Go“ – schließlich wollen“ wir“ feiern und „unsere Jungs“ anfeuern.
Dabei ist das mit dem Miesmacher totaler Quatsch. Fußball ist toll und auch ich genieße es, mir das ein oder andere Spiel anzuschauen, mich über guten Fußball zu freuen und unqualifizierte Kommentare über den Public Viewing Platz zu brüllen – dafür brauche ich allerdings keine Deutschlandfahne.
Alle zwei Jahre bin ich wieder aufs Neue erstaunt, dass die Fußballmeisterschaften dazu missbraucht werden, den Patriotismus und zu Teilen auch den Nationalismus fälschlicherweise zu legitimieren – denn Fußball hat in erster Linie mit Deutschlandflaggen nichts zu tun. In keinem anderen sogenannten Volkssport wird der Patriotismus so kritiklos hingenommen, ja gar begrüßt und so wenig reflektiert wie zu Zeiten von Fußballmeisterschaften. Dass die deutsche Nationalelf zu den erfolgreichsten im Fußball gehört scheint keine Frage, aber geht der Patriotismus mit dem Erfolg der Spieler einher? Ja, es scheint, als wachse der akzeptierte Party-Patriotismus parallel zu den Erfolgen auf dem Platz ins Unermessliche. Aber warum feiern wir dann nicht die Spieler auf dem Platz, das schönste Tor des Tages oder den guten Fußball an sich, sondern das gesamte Land? Und ist es nicht symbolisch oder zumindest kritisch zu hinterfragen, dass der Nationalstolz durch den Erfolg über andere Nationen so rasant wächst?
Es ist schon verrückt – kommt es zu Gesprächen über die Schullaufbahn, haben wir wahrhaftig (fast) alle eins gemeinsam. Den Nationalsozialismus haben wir in der Schule sooft durchgekaut, dass wir dem Thema (leider) überdrüssig geworden sind. Wir lehnen daher und aus anderen durchaus nachvollziehbaren Gründen den Nationalismus und die Geschichte rund um Hitler ab. Denn der Nationalismus stellt die eigene Nation über andere. Aber auch der Patriotismus – vielerseits als eine Unterform des Nationalismus bezeichnet – stellt die Idee einer eigenen Nation – unserer Nation in den Mittelpunkt. Schauen wir also mal genauer hin:
Eine Nation ist im Grunde nichts weiter als eine Gruppe von Menschen, denen gemeinsame kulturelle Merkmale wie Sprache, Tradition oder Abstammung zugeschrieben werden, dessen Zugehörigkeit durch die Landesgrenze bestimmt wird.
Eine Landesgrenze also, die sich nachweislich in der Geschichte mehr als einmal verschoben hat und die ein durch Menschen geschaffenes, immer wieder veränderbares, nicht naturgegebenes Konstrukt ist.
Verkauft wird uns das Ganze dann als „Vaterland“, auf das wir nicht nur stolz zu sein haben, sondern dem wir uns auch zugehörig fühlen – oder eben auch nicht. Denn das ist eines der Probleme mit Nationen und Patriotismus – er schließt aus.
Studien belegen, dass Patriotismus und Nationalismus historisch betrachtet dann wachsen, wenn die soziale Sicherheit im Land oder aber bei einzelnen Individuen bröckelt. Denn auf die Nation können wir uns immer berufen, stolz aufs eigene Land können wir immer sein. Das mit dem Patriotismus einhergehende „Wir-Gefühl“ gibt uns Sicherheit und lässt uns zugehörig fühlen. Es ist ein Klebemittel in der Gesellschaft und um es mit den Worten des Patriotismus-Kritikers und Philosophs Arthur Schopenhauer zu sagen: „Die wohlfeilste Art des Stolzes ist der Nationalstolz. Denn er verrät in dem Behafteten den Mangel an individuellen Eigenschaften, auf die er stolz sein könnte. Jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation stolz zu sein.“
Aber ein nationales Wir-Gefühl braucht immer auch ein Feindbild, einen Gegner, den es zu besiegen gilt und so ist es nicht verwunderlich, dass die wenigen Wochen während der Fußballmeisterschaften ein Paradies für viele Nazis sind. Endlich können sie ihren Nationalismus frei ausleben – denn auffallen tut er dann ganz sicher nicht mehr. Sollte uns das nicht zu denken geben?
Aber nein, nicht jeder Fußball-Fan ist PatriotIn oder NationalistIn. Wie in jeder sozialen Bewegung, wirkt auch hier der Mitläufer-Effekt. Viele gehen einfach mit dem Trend, der durch zahlreiche konservative PolitikerInnen verharmlost und sogar gefördert wird. Den meisten geht es hierbei nämlich einfach nur um Party-Spaß, Zusammengehörigkeit und die Identifikation mit einer Gruppe – wozu man dafür allerdings nationale Insignien braucht und ob das Mitläufertum nicht mindestens genauso erschreckend ist wie der Patriotismus, ist nicht klar.
Viel zu oft wird von Patriotismus-AnhängerInnen betont, dass es doch ein gutes Zeichen für unser Land und auch für unsere erfolgreiche Migrationspolitik ist, wenn „der Türke nebenan ebenfalls seine Deutschlandflagge hisst“ und wenn „wir trotz so einer international durchmischten Gruppe von Nationalstolz reden können, denn schließlich wachse doch sichtlich die Toleranz in unserem Lande“.
Studien und Umfragen hingegen belegen allerdings, dass nach den Meisterschaften viele Deutsche (noch) nationalistischer eingestellt sind als zuvor und dass die von den PolitikerInnen und Nationalstolz-BefürworterInnen als „beachtlich wachsende Toleranz“ verkaufte Akzeptanz bezüglich der „ausländischen“ Nationalspieler eine zweckgebundene sei. Denn der Fußball-Patriotismus schafft keine größere Offenheit oder ein grenzenüberwindenes Gemeinschaftsgefühl; vielmehr schließt er aus und unterteilt nachweislich „Ausländer“ in gute und schlechte Migranten. „Odonkor hat sich ja zumindest angepasst und tut ja auch was für unser Land!“
Mir macht das Angst. Und noch viel größere Angst macht mir, dass dieser Party-Patriotismus auch in anderen Sportarten und zu anderen Anlässen immer omnipräsenter wird. Lena Meyer-Landruth wurde 2010 ebenfalls mit einem Flaggenmeer begrüßt und auch im Handball setzt sich das „Flagge zeigen” mehr und mehr durch.
Wiederholungen und das Ritualisieren führen langfristig zu einer Normalisierung und dann? Gibt’s wieder braune Suppe ?!
Jean-Luc Pignon & Anna Siebert