Jedes Jahr feiern Millionen Menschen Karneval im Rheinland. Als Hochburg dieses kulturellen Events gilt seit jeher Köln. Von uns Norddeutschen meist skeptisch beäugt, feiern die Rheinländer ein wildes Fest in der närrischen Zeit. Und als Nordlicht gewinnt man nach seinem ersten Mal Karneval so einige überraschende Erkenntnisse.
Als Ureinwohner norddeutscher Landen ist mir Karneval seit jeher eher befremdlich vorgekommen. Liefen auf diversen TV-Programmen Berichte über den rheinischen Frohsinn und Live-Schaltungen von Karnevals-Sitzungen, zappte ich meist irritiert weg. Bitte nicht falsch verstehen – verkleiden ist super. Fasching in der Grundschule war schon immer ein amüsantes Erlebnis für Kinder. Doch mit rheinischem Karneval verbinde ich Menschen in bunten Uniformen, die zu mir unverständlicher Musik schunkeln, beneidenswert bewegliche Funkenmariechen und grölende Touristen in Superman-Kostümen. Für jemanden wie mich – eine Person, die im Lloret de Mar-Urlaub stets auf der Suche nach wenigstens etwas Kultur und regelmäßigen Alkohol-Pausen war – ein Albtraum. Nun ist Aschermittwoch, der Wahnsinn vorüber und ich sitze erkältet in meiner Kölner Wohnung. Karneval war genauso, wie ich es mir vorgestellt habe. Irgendwie nicht von dieser Welt. Aber leider geil.
„Oh, dein erstes Karneval in Köln? – Wie süß!“ Diesen Spruch musste ich mir vor wenigen Tagen noch von Arbeitskollegen und Freunden anhören. Alle schienen gespannt, wie ich es finden würde. Dazu muss man anmerken, dass es unter den rheinischen Eingeborenen zwei Sorten Menschen gibt: Solche, die Karneval mit der Muttermilch aufgesogen haben, sich alle Kostüme selber basteln (und bei der Nennung von Amazon-Verkleidung verächtlich schnalzen) und sich jedes Jahr wie Bolle auf die Zeit zwischen Weiberfastnacht und Aschermittwoch im Frühjahr freuen. Und dann gibt es diese Kölner, wie einer meiner Kollegen: „Ich flüchte.“ Aussagen wie diese ließen mich erschaudern. Schließlich wollte ich mich nicht alleine ins Abenteuer Karneval wagen, sondern erwartete auch noch Besuch von vier ebenfalls norddeutschen Mädels. Doch die Entscheidung eines Freundes, der extra Spring Break in den USA ausfallen ließ, um für ein paar Tage ins Rheinland zu fliegen und sich Kölsch und Karneval zu gönnen, überzeugte mich. So eine – für die meisten Männer – irrsinnige Entscheidung musste ja eine Begründung haben.
Da meine Erinnerung an die letzten Tage leider recht getrübt ist, kann ich meine Erkenntnisse über Karneval nur so zusammenfassen:
Karneval ist, wenn …
du nicht entfliehen kannst, außer du verlässt die Stadt. In den Bahnen begegnen dir tausende Rotkäppchen, Supermänner oder klassische Kölner Jecken in den Farben ihrer Vereine. Die städtische Verkehrsgesellschaft ändert für mehrere Tage die Strecken der wichtigsten Transportadern, die Restaurants erhöhen ihre Preise und die coolsten Clubs der Stadt spielen nur noch Karnevals-Musik. Beim Bäcker bedient dich ein Clown und statt Wasser trinken ALLE Kölsch.
Karneval ist, wenn …
Kostüme der Gesprächsstoff Numero Uno sind. Was ziehe ich wann an? Am besten vorbereitet gilt, wer jeden Tag ein anderes Kostüm vorweisen kann. Und so ist dann gerne mal ein Hunderter für die Verkleidungspracht dahin. Wie schon erwähnt, gilt die kreative Bastelkunst dieser Tage mehr denn je. Echte Kölner basteln sich selbst ein Kostüm. Oder man besucht den Kölner Marktführer „Deiters“, an jenen Tagen mit Türstehern und Sicherheitspersonal ausgestattet, um die Massen an verkleidungswütigen Jecken abzufertigen und sie in Träume aus Polyester und anderen 100% Allergie-und Schweiß garantierenden Stoffen zu hüllen. Kostüme sorgen aber auch für Verwirrung, etwa wenn dein Prinzessin Leia-Kostüm (aus dem Original Star Wars-Fanshop) wie folgt kommentiert wird: „Wie cool, du bist doch die Tochter von Voldemort!“ Oder wenn das Krümelmonster als Samson bezeichnet wird („Nein, verdammt, der wohnt nur in der gleichen Straße“). Weniger lustig wird es, wenn die afrikanische Klofrau nie „Cool Runnings“ gesehen hat, und euer Gruppen-Filmkostüm der jamaikanischen Bobmannschaft gar nicht witzig findet, und schon gar nicht das Glücks-Ei küssen mag.
Karneval ist, wenn …
alle Freunde sind. Karneval ist das Fest der Liebe – auch wenn angeblich jeder vierte Besucher fremdgeht. Du triffst an jeder Ecke neue Freunde fürs Leben. Und um die kümmert man sich, egal ob Ernie Bert verloren hat, du nicht mehr weißt, wo du bist oder einfach auch nur mal vom Döner abbeißen willst. Körperkontakt ist völlig normal und Kuscheln mit wildfremden Menschen anscheinend auch. Schmatzer werden aufgedrückt und man fällt sich in schwitzende Arme. Für solche Fälle lohnt sich definitiv die Anschaffung von Sagrotan-Tüchern.
Karneval ist, wenn…
kulturelle Vorurteile schon irgendwie bestätigt werden. So denkt z. B. der kanadische Austauschstudent Kyle seit Rosenmontag, dass ein Weißwurst-Frühstück mit Senf, Brezeln und Techno-Musik in Deutschland völlig normal ist. Und du niemals – wirklich NIEMALS –in Köln jemanden mit „Helau“ begrüßen darfst – das sagt man in Düsseldorf. Und Düsseldorf ist scheiße.
Karneval ist, wenn …
eine Million Menschen den Karnevals-Umzug besuchen und jeder mit einem riesigen Beutel gefüllt mit überraschend leckeren Süßigkeiten nach Hause wankt. Außerdem werden umsonst Blumensträußchen verschenkt – dafür muss man dem Schenker aber ein Bützchen (Küsschen) aufdrücken – Herpes alaaf!
Karneval ist, wenn …
du anfängst, Karnevals-Musik richtig geil zu finden. Du verstehst zwar nur die Hälfte (Poppe, kaate, danze, dat kannste!) der Songtexte, aber du singst trotzdem aus vollem Halse mit. Kölsche Lieder öffnen das Herz – sogar das von reservierten, norddeutschen Fischköpfen.
Karneval ist, wenn …
du anfängst, Köln zu lieben. Die Stadt ist äußerlich hässlich, aber innerlich schön. Die meisten wollen eigentlich doch nur in Frieden feiern und die Grundstimmung ist so tolerant und aufgekratzt fröhlich, dass du einfach nicht anders kannst als Gänsehaut bei den Hymnen über Köln zu kriegen oder aus tiefer Überzeugung „Kölle alaaf“ zu brüllen.
Karneval ist, wenn …
du an Aschermittwoch erkältet (Wie soll man ein Kostüm auch mit Jacke erkennen), komplett pleite (Viele neue Freunde = Viele von dir gesponserte Bierrunden) und irgendwie dehydriert bist (Habe ich in den letzten Tagen eigentlich irgendwann mal etwas Normales getrunken?). Außerdem ist dein Handy kaputt und du hast Ausschlag von der Prinzessin Leia-Perrücke.
Aber Karneval ist auch, wenn …
alle froh sind, dass es jetzt vorbei ist und trotzdem nächstes Jahr wieder kommen wollen.
Lisa-Marie Siewert