Im Wahlkampf war er eigentlich schon abgeschrieben, jetzt erlebt er sein Revival, nur die Partei hängt hinterher. Ein Kommentar und fünf Fragen an Olaf Scholz.
Mehr als ein Jahr ist seit Bekanntgabe der Kanzlerkandidatur von Olaf Scholz für die SPD vergangen. Weit mehr Zeit also als bei den Grünen und der Union. Kandidat und Partei erhofften sich dadurch eine bessere Vorbereitung und einen auf den Kandidaten abgestimmten Wahlkampf. Obwohl die Sozialdemokraten nach der Verkündung der Kandidat:innen von Union und Grünen weitgehend in den Hintergrund gerieten, zeigt sich jetzt, dass sich das Warten für die SPD gelohnt hat. Während Armin Laschet und Annalena Baerbock mit persönlichen Skandalen zu kämpfen hatten, der Eine die Maskenaffäre, pietätloses Lachen am Bildrand, die Andere eine Nebeneinkunfts- Nachmeldung und bei beiden Plagiatsvorwürfe, konnte der amtierende Finanzminister sich entspannt zurücklehnen.
Und so kommt es, dass Scholz mittlerweile bei einer Direktwahl mit einigem Abstand ins Kanzleramt gewählt werden würde. Ein Drittel aller Befragten hält ihn für den fähigsten Kandidaten. Auch wenn die SPD bei den Popularitätswerten um einige Prozentpunkte hinter ihrem Kandidaten liegt, so wird die Sympathie mit Spitzenkandidat:innen die Wahl im September mitentscheiden. Vor allem in Krisensituationen hält die Bevölkerung, wie an den Landtagswahlen der vergangenen Monate zu erkennen, gerne an altbekanntem fest. Merkel tritt ab, also entfällt die komfortabelste Option. Was läge da näher, als das allgemeine Vertrauen in ihren Vertreter, den Vizekanzler und Finanzminister zu setzen? Cum-Ex-Skandal und Wirecard rücken in Zeiten von Corona-Milliardenhilfen und drohenden weiteren Starkwetterereignissen des fortschreitenden Klimawandels in weite Ferne. Jetzt zählt eine selbstbewusste Ruhe, die keiner so ausstrahlt wie Olaf Scholz.
Der ehemalige Hamburger Bürgermeister ist zwar nicht Angela Merkel, aber er ist der Kandidat, der ihr, was den Führungsstil und die Persönlichkeit angeht, am ähnlichsten ist. Er wäre gewissermaßen das Methadon für ein Land, das nach 16 Jahren der Abhängigkeit in den Zwangsentzug geschickt wird.
Was erwartet uns in den ersten 100 Tagen, wenn sie die Wahl gewinnen, Herr Vizekanzler?
Sie betonen, dass sie bei der kommenden Bundestagswahl für die SPD mit einem Ergebnis in den oberen 20 Prozent rechnen. In aktuellen Umfragen (Mai 2021) liegen Sie etwa bei der Hälfte. Welche Themen werden der SPD im Konkurrenzkampf mit den Grünen und der Union die fehlenden Prozente bringen?
Ganz einfach: Ausgezählt wird am Schluss. Es gibt immer mehr, die sagen, es ist möglich und es ist gut, wenn die SPD die nächste Regierung führt. Wichtig ist, dass wir in Schlagdistanz sind. Die SPD steht für den gegenseitigen Respekt. Das heißt, dass die Frage, wie viel eine ungelernte Angestellte verdient, für uns alle ein Thema ist. Die Arbeit des Müllwerkers, der Theaterleiterin, der Handwerkerin und des Erziehers muss in gleichem Maße anerkannt werden. Das will ich zum Beispiel mit besseren Tariflöhnen und einem Mindestlohn von 12 Euro erreichen. 12 Euro die Stunde – das bedeutet für zehn Millionen Menschen eine handfeste Gehaltserhöhung. In Ostdeutschland profitiert sogar jede und jeder zweite Beschäftigte direkt und unmittelbar von einem höheren Mindestlohn.
Außerdem müssen wir es schaffen, Klimaneutralität und die Modernisierung der Wirtschaft miteinander zu vereinen. Vor uns liegt eine zweite industrielle Revolution: 250 Jahre lang stützte sich unsere Industrie auf die Nutzung von fossiler Energie. Nun wollen wir innerhalb von nicht mal 25 Jahren komplett CO2-neutral werden. Es geht um die Sicherung von sieben Millionen Arbeitsplätzen in der Industrie und den Wohlstand Deutschlands. Deshalb will ich genau da anpacken. CDU und CSU verstehen das Ausmaß der anstehenden Energierevolution nicht. Und die Grünen finden zwar Ökostrom chic, aber wollen sich dann in der konkreten Umsetzung nicht die Finger schmutzig machen. Das Wichtigste ist doch: Klimaschutz müssen sich 83 Millionen Bürgerinnen und Bürger leisten können. Dafür kämpfe ich. Wer will, dass ich die nächste Regierung anführe, macht das Kreuz am besten direkt bei der SPD.
Welche Kernpunkte aus ihrem Programm für die kommende Bundestagswahl sind für sie in potenziellen Koalitionsverhandlungen nicht aufweichbar?
Zu einer modernen und offenen Gesellschaft gehört, dass die vollständige Gleichstellung von Frauen und Männern in allen Lebensbereichen Realität wird. Ein von mir geführtes Kabinett wird mindestens zur Hälfte mit Frauen besetzt sein. Als ich als Juso für die Frauenquote gekämpft habe, dachte ich, dass wir das mit der Gleichberechtigung in ein paar Jahren erreicht haben werden. Wir sind heute weiter als vor 40 Jahren, aber gut ist die Lage immer noch nicht. Das gehört auch ausgesprochen. Ich werde der Frauenpolitik mehr Gewicht einräumen, damit Gleichberechtigung jetzt wirklich geschafft wird.
Das Prinzip des gleichen Lohns für die gleiche und gleichwertige Arbeit muss selbstverständlich für alle gelten. Wir haben per Gesetz dafür gesorgt, dass Arbeitnehmerinnen einen Auskunftsanspruch gegenüber ihrem Arbeitgeber haben. So können sie herausfinden, ob der Kollege, der die gleiche Arbeit macht, dafür vielleicht mehr Geld bekommt. Das reicht aber nicht.Wir brauchen strenge Gesetze, die vorschreiben, dass Männer und Frauen gleich bezahlt werden müssen und zwar ohne dass sich Betroffene selbst darum kümmern müssen.
Außerdem braucht es bessere Löhne in Berufen, in denen vor allem Frauen arbeiten und eine verlässliche Ganztagsbetreuung in Kita und Schule. Der Wunsch von vielen Müttern ist es, mehr arbeiten zu können – das will ich durch kluge Familienpolitik möglich machen.
Joe Biden hat in seinen ersten 100 Tagen die Impfkampagne massiv vorangebracht, ein billionenschweres Infrastrukturpaket verabschiedet und die Klimaziele der USA deutlich verschärft. Was würde Deutschland in den ersten 100 Tagen Olaf Scholz erwarten?
Es geht mir um Respekt: Im ersten Jahr meiner Kanzlerschaft will ich den Mindestlohn von neun auf zwölf Euro anheben. Aber der Mindestlohn heißt Mindestlohn, weil er unsere Minimalforderung ist. Ich will für bessere Arbeitsbedingungen, mehr Tarifbindung und starke Betriebsräte sorgen. Und es geht mir um Zukunft: Die Aufgabe des Staates ist es, den Rahmen zu setzen und die Infrastruktur fit zu machen. Dafür will ich jedes Jahr 50 Milliarden Euro für Investitionen bereitstellen. Unsere Aufgabe ist es, die richtigen Bedingungen für die Investitionen der Privatwirtschaft zu schaffen. Die Stahlindustrie sagt mir: Die Windparks errichten wir schon selbst – aber ihr seid für die Stromleitungen und das Netz verantwortlich. Wenn ich die Regierung führe, werden wir im ersten Jahr die erforderlichen Gesetze ändern, damit der Bau von Stromleitungen und Erzeugungsanlagen für erneuerbare Energien in Deutschland vorangeht.
Welche Maßnahmen streben Sie an, um Klimaneutralität nicht nur auf nationaler, sondern auf globaler Ebene zu erreichen und welche Rolle kann Deutschland im internationalen Klimaschutz einnehmen?
Mit der Rückkehr der Vereinigten Staaten in das Pariser Klimaabkommen gibt es nun neue Möglichkeiten, die internationalen Kooperation in die Klimapolitik zu vertiefen. Darum habe ich mich im Mai mit dem US Klimaschutzbeauftragten John Kerry getroffen: Ich arbeite an einen internationalen Klimaclub. Die Herausforderungen des Klimawandels lassen sich nur gemeinsam lösen. Während viele Staaten ihre nationalstaatlichen Bemühungen verstärken, fehlt auf der internationalen Ebene bislang ein absichernder Rahmen, der klimapolitische Vorreiter vor Nachteilen im internationalen Wettbewerb schützt. Es ist klar, dass Volkswirtschaften auf Dauer nur mit einer ambitionierten Reduzierung von Emissionen zukunftsfähig bleiben können. Aber natürlich darf Klimaschutz auch kurzfristig kein Standortnachteil sein.
Unser Online-Magazin richtet sich überwiegend an Studierende. Warum sollten junge Menschen die SPD wählen, was bietet die SPD für Studierende und junge Menschen, die sich in der Pandemie oft übersehen fühlten, im Kontrast zu anderen Parteien?
80 junge Menschen unter 35 Jahren kandidieren für die SPD in diesem Bundestagswahlkampf. Bei uns wird nicht nur über junge Menschen gesprochen – bei uns sind sie aktiver Teil der Politik. Die vielen jungen Kandidierenden wissen am besten, vor welchen Herausforderungen ihre Generation steht – und wirken als Scharnier zwischen dem Parlament und den vielen Engagierten an den Universitäten und auf der Straße. Ich selbst bin der SPD übrigens im Alter von 17 Jahren beigetreten.
Anmerkung der Redaktion: Die Fragen an Olaf Scholz stellte Krosse im Mai 2021.
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