Vom 18. Oktober bis 3. November findet in Bremen der 978. Freimarkt statt. Das größte Volksfest in Norddeutschland lockt auch dieses Jahr wieder etliche Besucher zur Bürgerweide. Fahrgeschäfte, Festhallen, Essen, Trinken und Buden aller Art gehören, wie jedes Jahr, zum Charakter der Veranstaltung. Doch der Bremer Freimarkt ist auch immer wieder Streitpunkt: Die einen lieben die anderen hassen ihn. KROSSE stellt zwei Sichtweisen vor.
Gute Seiten…
„Ischa Freimaak!“ – Bremens fünfte Jahreszeit ist angebrochen! Die Bremer dürfen ausgiebig feiern! Menschen strömen in Scharen in die Metropole an der Weser, um DAS Volksfest in Norddeutschland zu erleben.
Ich lebe seit einem Jahr in Bremen. Als Neuankömmling dauerte es nicht lang, bis ich vom Freimarkt erfuhr, vom großen Eröffnungsfeuerwerk, den zahlreichen Fahrgschäften, Imbissbuden, dem Bayernzelt und der Halle 7, sowie der Bremer Spezialität „Eis wie Sahne“. Ich war durchaus aufgeregt, was da auf mich zukommen würde. Dieses Jahr erlebe ich den Freimarkt zum zweiten Mal und kann sagen: Wie die Kohltour, ist auch der Freimarkt ein Stück Bremer Kultur. Nein, er ist sogar viel mehr. Der Freimarkt ist zu Recht Bremens kulturelles Großereignis.
Der Freimarkt beginnt mit einem großen Knall. Das Eröffnungsfeuerwerk hat dieses Jahr meine Erwartungen weit übertroffen. Der Himmel über dem Markt wird in vielen Farben bunt erleuchtet. Zwischen den Buden mit Leckereien, den Fahrgeschäften, den Gewinnspielständen voller „Minions“ kommt festliche Stimmung auf: Einfach schön! Die Freude auf Bier, Adrenalin, gebratene Champignons, Schmalzkuchen und „Eis wie Sahne“ steigt ins Unermessliche! Ich will fast „Ischa Freimaak!“ schreien, aber das wäre dann vielleicht doch zu viel des Guten. Zusammen mit Freunden geht es auf ins Alpenhotel, in den „Vodoo Jumper“, weiter in die Achterbahn und in viele weitere Fahrgeschäfte. Auch das „Steiger-60-Meter-Riesenrad“, bis 2012 größtes mobiles Riesenrad der Welt, darf natürlich nicht ausgespart werden. Danach wird sich an den Leckereien bedient. Heute muss der Geldbeutel leer werden! Noch ein Bier im kultigen Bayernzelt, dann geht es nach dem Tag auf dem Freimarkt in die berüchtigte Halle 7.
Hier wird der Ballermann nach Bremen geholt. Mickie Krause, die Atzen, Klaus & Klaus, Peter Wackel und viele weitere sorgen dieses Jahr für Stimmung. Für diejenigen, die eher auf Elektro stehe, kommt dieses Jahr Cosmo Klein. Bei „2 Many Discjockeys“ können sich lokale Bremer DJs und Privatpersonen anmelden und das Publikum der Halle 7 mit ihrer Musik einheizen.
Aber nicht nur die Bürgerweide wird in einen Festplatz verwandelt. Der Freimarkt ist überall! Der Roland auf dem Marktplatz ist festlich geschmückt, um ihn herum sind auf dem kleinen Freimarkt einige Imbissbuden und Fahrgeschäfte, darunter ein kleines Riesenrad, aufgebaut. Die Bahnen werden mit Fähnchen geschmückt. Ein großer Festumzug zieht von der Neustadt über die Domsheide bis zur anschließenden Preisverleihung für die schönsten Festwagen ins Bayernzelt.
Am 3.11. wird der 978. Freimarkt dann zu Ende gehen. Bis dahin werden wieder um die vier Millionen Menschen ihre Freude an ihm gehabt haben. Die Freimarktzeit ist eine Zeit des Vergnügens, eine Zeit gemeinsam mit Freunden etwas zu erleben und
nicht zu vergessen auch eine Zeit, in der Umsatz in die Stadt fließt. Der Freimarkt ist Bremens kulturelles Großereignis und ich freue mich schon jetzt, wenn es im nächsten Oktober zum 979. Mal „Ischa Freimaak!“ in Bremen heißt.
…schlechte Seiten
Das Portemonnaie wandert vorsichtshalber von der Gesäßtasche der Hose, in die innere Fütterung der Jacke. Man weiß schließlich nie, wem man auf dem Freimarkt begegnet. Schon auf dem Weg zur Bürgerweide wird einem mulmig im Bauch – die Straßenbahn hält an der Endstation Alptraum. Schreie, Dampf und diese grellen Lichter sorgen für Reizüberflutung auf allen Kanälen des menschlichen Körpers. Nicht mal richtig da, möchte man schon wieder weg aber aus irgendeinem unerklärlichen Grund scheint diese Veranstaltung zum Pflichtprogramm der Gesellschaft zu gehören. Kaum einer kann sich dem Sog des Volksfestes entziehen, denn jeder kennt einen, der einen kennt, der einen kennt, der mit einem da hin möchte.
So bahnt man sich den Weg durch einen Hormon-Dschungel, dessen gefährlichsten Exemplare erst am Abend sichtbar werden. Die ständige Konfliktvermeidungshaltung verstärkt sich beim Passieren einschlägiger Fahrgeschäfte und großer Gruppen von Menschen, die nicht etwa an eine der unzähligen Buden gehen, um etwas zu trinken, sondern stattdessen PET-Flaschen mit fragwürdigem Inhalt herum geben lassen. Die patrouillierende Polizei nimmt man kaum wahr und erscheint „normal“ – doch wie normal ist es von einer grundlegenden Gefahr und Kriminalität auszugehen? Ursprünglich stand der Freimarkt für das freie Marktrecht und die Unabhängigkeit Bremens. Heute steht der Jahrmarkt hauptsächlich für Schlägereien, Alkohol und Mickie Krause. Die geballte Kombo der erwähnten Attribute sind in der „Halle 7“ anzutreffen, wo das Klischee des Rummelboxers in Gänze aufgeht: Am ersten Freimarktwochenende wurde einem Besucher der rechte Nasenflügel abgebissen.
Doch kann man auch Spaß haben? Vielleicht mit sehr viel Geld, da die Fahrgeschäfte astronomische Summen aufrufen, für ein Preis-Leistungsverhältnis, dass einem das Poffertjes im Halse stecken bleibt. Ist das nichts für einen, versucht man sein Glück an einer der Losbuden, bei denen man entweder Nieten oder hochwertige Preise wie Kuscheltiere, oder noch größere Kuscheltiere gewinnen kann. Freunde der Live-Musik zieht es wahrscheinlich eher in die großen Festzelte: Hansezelt und Bayern-Festhalle. Das Line-Up reiht sich nahtlos in den Charakter der Kirmes ein: Markus Becker („Das rote Pferd“), Anna-Maria Zimmermann (Kandidatin von „Deutschland sucht den Superstar“ anno 2006), die Atzen (landeten den Hit „Hey! Das geht ab.“) und: Jürgen Drews. Die dunkle Jahreszeit steht zwar noch bevor, doch sehen diese drei Wochen schon sehr düster aus.
„Ischa Freimaak“: In der Theorie ein romantischer Ausruf im „Bremer Schnack“, der so viel wie „Ist ja Freimarkt“ bedeutet, doch in der Praxis eine Entschuldigung für totales Chaos ist und Legitimation des Wahnsinns darstellt. Jeder Besucher kommt irgendwann zu sich und verlässt den hypnotisierten Zustand der Lichter, Geräusche und Gerüche, entweder am nächsten Morgen oder unmittelbar. Auch ich entkomme dem Delirium des Schreckens und machen mich auf dem Weg zur Straßenbahn, um nach Hause zu fahren. Das deutlich leichtere Portemonnaie kann wieder an den vertrauten Platz, die Gesäßtasche der Hose, zurückkehren.
Dustin Hesse & Maximilian Kamp