Mit Schirm, Tisch und Mandel. Auf dem Bremer Freimarkt haben wir einer Schaustellerfamilie in den Mandeltopf geguckt – und in ihre Familiengeschichte.
Generationsübergreifendes „Mandelfieber“ hat auch dieses Jahr wieder die Schaustellerfamilie Vespermann mit ihren Verkaufswagen zum Bremer Freimarkt gezogen: Eine Geschichte über den Alltag und die Leidenschaft einer fast normalen Familie.
Eine kleine Geschichte der Volksfeste
Rechts neben dem Riesenrad steht Tina Vespermann am Mandelstand ihrer Eltern. Ihre Familie stellt bereits in der sechsten Generation verschiedenste Sorten der süßen Nüsse her. Die 22-Jährige gehört mittlerweile zu den besten Mandelbrennerinnen Deutschlands. Obwohl jeder der Vespermanns die gleichen Zutaten in derselben Menge verwendet, schmecken die Mandeln bei jedem anders – und bei Tina nun mal außergewöhnlich gut. Mit ihrem Mandelstand ist Tina mit ihrer Familie jedes Jahr im Oktober auch auf dem Freimarkt in Bremen anzutreffen. Die Geschichte der Schaustellerdynastie der Vespermanns begann bereits vor fast 120 Jahren. Im Jahr 1963 übernahm dann Großvater Louis Werner Vespermann den Betrieb. Ein kleiner Tisch und Schirm machten ihn zum „Mandelmann“- heute ist das Geschäft ein eingetragener Firmenname. Dass es soweit kam, war großes Glück, denn im Nachkriegsdeutschland gab es in den zerstörten Städten kaum Platz für Schausteller, ihre Attraktionen darzubieten, ganz zu schweigen von Gelegenheiten, Volksfeste zu feiern. Schließlich gab es jedoch für die englischen Besatzer kleine Budenansammlungen, zu denen die Deutschen allerdings keinen Zutritt bekamen. „Die standen draußen und drückten sich am Zaun die Nasen platt“, erzählt der Großvater und Firmengründer. Schließlich hätten auch die Zaungäste zum Festplatz gehen dürfen und hätten trotz der großen Not ein paar Groschen zusammengesucht. Alle seien froh gewesen, für ein paar Augenblicke den Kriegschrecken zu vergessen. In den nächsten Jahrzehnten entwickelte sich wieder eine rege Schaustellerkultur, durch die viele der alten Volksfeste, die es zum Teil bereits seit Jahrhunderten gibt, erhalten bleiben konnten. Den Bremer Freimarkt, nach wie vor eines der größten Volksfeste in Deutschland, gibt es sogar schon seit fast tausend Jahren. Jedes Jahr freuen sich die Vespermanns auf dieses Ereignis. Trotz der vielen Arbeit und anstrengenden langen Tage sei es für sie eines der schönsten Feste.
Ein Haus auf Rädern
Die Vespermanns leben aber nicht das ganze Jahr auf den Volksfesten im Norden Deutschlands. Die Familie, die eigentlich aus Hamburg stammt, hat für die kalte Jahreszeit seit einigen Jahren ein kleines Häuschen in Husum. Doch in den wärmeren Monaten führt sie das für sie ganz normale Schaustellerleben. Tina und ihre Eltern beginnen den Tag gegen neun Uhr. Früher anzufangen wäre kaum machbar, denn an den Wochenenden stehen die Vespermanns schon mal bis ein Uhr nachts in ihrem Mandelwagen. Danach muss noch aufgeräumt werden, sodass vor zwei Uhr kaum jemand im Bett liegt. Morgens nimmt die Familie zunächst Warenlieferungen an und bereitet das Tagesgeschäft vor. Doch natürlich muss bei den Vespermanns wie auch in anderen Familien eingekauft, geputzt oder zur Schule gegangen werden.
„Um zwölf oder 13 Uhr geht’s dann wieder los”, lacht Dieter Vespermann. So früh zu beginnen sei typisch für den Freimarkt, so der 50-jährige. Während der zwei Wochen, in denen das Volksfest stattfindet, lebt die Familie zwischen Buden und Fahrgeschäften. Genauso wie die Wohnwagen der anderen Schaustellerfamilien, ist das mobile Zuhause der Vespermanns eine Sonderanfertigung: „Größenmäßig an der Grenze des Zugelassenen. Die Straßenverkehrsordnung zählt auch für uns“, erklärt Vespermann. Die älteren Kinder bekämen ihre eigenen kleinen Wohnwagen. „Die haben ja auch keine Lust immer so eng mit den Eltern zu leben. Das ist ja auch eine Sache der Privatsphäre“, schmunzelt der Vater von zwei Kindern. Die Kinder reisen ganz selbstverständlich mit. Ständiger Schulwechsel ist für sie ganz normal. Während des Freimarktes wird für die ganz kleinen ein spezieller Kindergarten vom Schaustellerverband in Bremen organisiert. Dort bleiben die Kinder bis abends, während ihre Eltern arbeiten. „Unsere Kinder wachsen auf dem größten Spielplatz der Welt auf“, sagt Mutter Gabi Vespermann. Sie würden sich von Geburt an kennen und untereinander Freundschaften schließen. Und manchmal entstehe sogar mehr als Freundschaft: „Mein Sohn Jan-Louis hat seine Frau auf einem Volksfest kennen gelernt. Sie kommt auch aus einer Schaustellerfamilie. Sie leben und arbeiten jetzt auf Volksfesten im Süden“, erzählt sie stolz.
Die meisten Kinder übernähmen nach der Schule die Betriebe ihrer Eltern. „Das Schaustellerhandwerk ist kein anerkannter Ausbildungsberuf“, erklärt Dieter Vespermann, denn die verschiedenen Betriebe der Familien seien einfach zu speziell und zu vielfältig. Natürlich gäbe es sehr viele Schaustellerkinder, die eine Ausbildung machten oder studierten. “Doch die kommen zu 99% wieder zurück, egal ob sie Ingenieure oder etwas anderes geworden sind. Es liegt ihnen einfach im Blut“, erzählt der Geschäftsführer. „Für Außenstehende ist das schwer nachzuvollziehen, aber das ist einfach unser Leben und auch das unserer Kinder.” Einmal habe ein Lehrer in der Schule die Kinder gebeten, den Beruf ihrer Väter auf ein Blatt Papier zu malen. Seine Tochter, erzählt Dieter Vespermann schmunzelnd, habe nicht angefangen. Als der Lehrer sie fragte, warum nicht, habe sie geantwortet: „Das passt doch gar nicht alles auf ein Blatt Papier – Handwerker, Mandelbrenner, Elektriker, Lastwagenfahrer… .“ Seine Tochter und sein Sohn haben sich für den Generationsbetrieb entschieden. Natürlich freue ihn das, doch wenn es nicht so gewesen wäre, dann wäre das auch in Ordnung. „Wir haben schließlich 2012. Und außerdem ist es auch kein einfacher Beruf“.
Nicht immer einfach, aber immer schön
„Natürlich ist es schön, hier zu arbeiten. Die Familien kommen zusammen. Eltern, Kinder und Großeltern putzen sich heraus und genießen den Freimarktsbesuch“, betont Dieter Vespermann. Doch er kennt auch die Schattenseiten des Schaustellerlebens: „Wenn du auf einem kleinen Volksfest bist und neun Uhr abends nur noch die Schausteller und zwei Polizisten, die auch nicht mehr wissen, was sie hier eigentlich machen, da sind, dann zweifelst du schon an deinem Beruf“. Sowieso müsse man sich heute viel mehr Gedanken machen als früher. „Du arbeitest und arbeitest und dann guckst du auf dein Konto und denkst: Das passt doch irgendwie nicht zusammen. Jemand aus der freien Wirtschaft würde mir immer von meinem Geschäft abraten.” Inzwischen habe sich die Situation aber wieder stabilisiert. Besonders schlimm sei die Umstellung von der Mark zum Euro gewesen. „Da brachen uns zum Teil 60 Prozent des Einkommens weg. Die Leute dachten, wir hätten die Preise einfach überschrieben. Auch das Internet, Playstation, Nintendo und Co. blieben nicht unbemerkt – die Kinder sind dann lieber zuhause geblieben“, seufzt Gabi Vespermann.
Es sei aber nicht das größte Problem, dass Leute weniger Geld hätten, so Dieter Vespermann. Das könne er gar nicht so sagen. Vielmehr sei es ein Problem, dass die kleinen Volksfeste verschwänden, aber die Schausteller ja nicht weniger würden. „Das ist ein Teufelskreis. Irgendwann kannst du dir die Fahrten zu den großen Veranstaltungen nicht mehr leisten oder beschließt, nicht mehr zu Festen zu fahren, auf denen schon deine Großeltern verkauft haben – aber aufgeben will und kann eigentlich keiner.” Dieter Vespermann möchte natürlich lieber über die schönen Seiten seines Berufes reden. Alle Großfamilien der Schausteller würden sich untereinander kennen. Man brauche auf dem Rummel keine Angst um seine Kinder zu haben, denn jeder wisse, zu wem sie gehörten und passe mit auf. „Wir feiern zusammen Feste und auch die Alten und Kranken reisen solange mit, wie es geht. Mein Schwiegervater wird jetzt bald 80. Seit einiger Zeit ist er behindert, doch trotzdem nehmen wir ihn mit. Niemand wird, nur weil er nicht mehr arbeiten kann, ausgeschlossen“, erklärt Gabi Vespermann. Natürlich sei die Konkurrenz groß auf dem Freimarkt. Noch heute ärgern sich die Vespermanns ein klein wenig darüber, dass sie ihre Kakaomandeln nicht haben patentieren lassen. Dafür gäbe es die in Bremen beliebten Ingwer- oder Chilimandeln nur bei ihnen am Stand. Sollte es mal einen Notfall geben – etwa eine Autopanne oder den Ausfall einer wichtigen Maschine – so könne man jederzeit auf die gegenseitige Hilfe unter den Familien zählen. Das sei selbstverständlich, aber danach gingen dann das Geschäft und die Konkurrenz weiter.
Rausfahren!
Stolz erzählt Gabi Vespermann von ihrem Enkel Lennox. Er ist sei die siebte Generation der Vespermanns, die im Schaustellergewerbe groß würden. In zwei Jahren steht das 50-jährige Jubiläum des Mandelgeschäfts der Vespermanns an und dann wird gefeiert. „Aber mit einem Kater sollte man keine Mandeln brennen“, lacht Gabi Vespermann, denn der Mandeltopf würde sich einfach zu schnell drehen. Im Winter wird die Familie wieder nach Husum gehen. Doch mit den ersten warmen Sonnenstrahlen im Frühjahr wird sie wie jedes Jahr von der Unruhe gepackt. „Wenn du dann den ersten Wagen siehst, dann willst du auch los, packst deine Sachen und dann läutet der Schausstellerausruf die Saison ein: Wir müssen rausfahren!”
Lisa-Marie Siewert und Christian Hannken