300 Geflüchtete leben in der Massenunterkunft Lindenstraße in kollektiver Quarantäne. Seit Ende März protestieren Geflüchtete und Unterstützer*innen für Corona-Schutzmaßnahmen vor Ort. Bis heute sind nicht alle der 650 Menschen dezentral untergebracht. Über 170 Menschen wurden infiziert, über 11 Menschen stationär behandelt. Warum sind die Zahlen so hoch? Und wie fühlt es sich an, als Geflüchteter in Bremen zu leben?
Dieser Text schildert vor allem die Perspektive eines ehemaligen Bewohners der zentralen Landesaufnahme Lindenstraße in Bremen und kontextualisiert diese subjektive Erfahrung der Geflüchteten. Ein weiterer Artikel wird in den kommenden Tagen veröffentlicht und eher Aussagen und Positionen der Sozialbehörde, der Sozialsenatorin sowie der AWO (Arbeiterwohlfahrt) beleuchten.
Ich hatte die Möglichkeit mit Ansu, einem ehemaligen Bewohner der Einrichtung, per Telefon zu sprechen. Er war bis vor Kurzem in der Flüchtlingsaufnahme in Bremen-Vegesack untergebracht und berichtet mir, wie gesundheitsgefährdend Strukturen dort seien: Alle Bewohner*innen teilen Sanitär- und Essensbereiche miteinander, Wasser gebe es nur in den Waschbecken in den Waschräumen, die Menschen leben in Mehrbettzimmern mit drei bis vier Personen. Anfang März waren es manchmal doppelt so viele. In einem Flur leben somit 30 bis 50 Personen. Neben Erwachsenen sind dort auch Kinder und Babys in Mehrbettzimmern untergebracht. Ansu wohnte mit vier anderen Menschen zusammen in einem Raum, dessen Fenster sich nicht zum Lüften öffnen ließen. Einige Räume haben zudem keine abschließende Raumabtrennung.
Physical Distancing sei so unmöglich. Auch weil sich Securitys und Mitarbeitende in ständigen Kontakt mit allen befänden. Einige Flure erhalten nach Ende der zweiwöchigen Quarantänezeit eine weitere Quarantäne, da erneut Menschen positiv getestet wurden. Das bedeutet bis zu 50 Menschen, teils Traumatisierte, sind dann erneut zwei Wochen mit Ausgangsbeschränkung in Quarantäne. Die Geflüchteten fordern eine dezentrale Unterbringung, da sich sonst alle Menschen anstecken würden. Ansu sagt, es gäbe Angebote von Hotels, Geflüchtete aufzunehmen, die die Sozialbehörde ablehnte. Der Pressesprecher der Bremer Sozialbehörde hält die Schließung der Massenunterkunft nicht für sinnvoll und sagte Ende März über die Erstaufnahme Lindenstraße: „Das Gebäude selbst ist ja nicht ansteckend“.
Missstände sind laut Geflüchteten Alltag
Als der Flüchtlingsrat Bremen die Sozialbehörde verklagt und eine Massenunterkunft als nicht geeignet für eine Pandemie beschreibt, wird die Klage abgewiesen. Die Begründung: alle 650 Menschen in der Unterkunft gehören einem Haushalt an. Positiv- und negativ-getestete Menschen leben so weiter auf engstem Raum und in einem Gebäude zusammen, das sei irrsinnig, erklärt der 28-jährige Ansu: „As long as you stay here in Lindenstraße, you are exposed to the virus“.
Die Politik wolle gar nicht helfen, sonst hätte sie vor Wochen reagiert und vulnerable Menschen, wie Babys, besser geschützt, findet Ansu. Denn für die gebe es keine richtige Babynahrung. Während der Quarantäne dürften Mütter diese nicht einkaufen, würden damit aber auch nicht versorgt werden. „Germany has the biggest economy in Europe. How can people be hungry here? It’s a big shame for Germany“. Eigenständig kochen können die Geflüchteten in der Lindenstraße auch nicht und die Mahlzeiten seien minderwertig und zeitlich begrenzt.
Deshalb kommen regelmäßig Aktivist*innen der Gruppe together we are Bremen (TWAB) zu den Geflüchteten und bringen selbst gekochtes Essen und was sonst benötigt wird. Die Gruppe, die auch von Geflüchteten mit aufgebaut wurde, dokumentiert die Situation in Bremer Flüchtlingsunterkünften, schafft auf Social Media Öffentlichkeit und organisiert politischen Protest. Für Ansu ist klar: „TWAB, they are doing the job for the politics”. TWAB schreibt, dass es für die Teilnahme an Demonstration Repressionen gebe. So sei ein Geflüchteter, der an einer Demo teilnahm, für einen Feueralarm verantwortlich gemacht und mit einem Transfer bestraft worden, obwohl er seine Unschuld mit Fotos bewiesen habe.
Neuinfektionen, Isolation und Repression
Ende April besucht die Bremer Sozialsenatorin Anja Stahmann die Unterkunft in der Lindenstraße. Ihr Eindruck sei positiv und sie versprach vor allem besseres Essen und einen WLAN-Ausbau. Für Ansu war der Besuch der Sozialsenatorin aber keine direkte Konfrontation mit den Problemen vor Ort und schon gar keine Begegnung auf Augenhöhe, auch weil sie sich nicht als Sozialsenatorin zu erkennen gab: „She did not even ask people. She did not speak directly with someone. She didn‘t talk about how serious the total lockdown is. How serious it is, that the mothers have no food for their babies. How sick people are“, erzählt Ansu aufgebracht.
Er wirft der AWO (Arbeiterwohlfahrt) und der Sozialbehörde vor, dass der schöne Schein nach außen mit allen Mitteln bewahrt werden soll und so die Transparenz über Vorgänge und Testungen in der Lindenstraße verloren ginge. In den Einrichtungen für Geflüchtete komme es immer wieder zu Willkür und Gewalt durch Mitarbeitende, erzählt Ansu: „They treat people unfair like a prisoner or slave. The security brutality is never ending here. This is normal routine here“, sagt Ansu. Vor einem Jahr erhielt ein Sicherheitsdienst aufgrund rassistischer Gewalt gegenüber Geflüchteten ein Hausverbot in der Flüchtlingsunterkunft. In einer anderen Flüchtlingsunterkunft in der Steinsetzer Straße seien Minderjährige gewaltsam und in Handschellen dazu gezwungen worden, die Unterkunft zu wechseln. Laut Anja Stahmann gebe es nun systematische Deeskalationstrainings.
Ansu beschreibt jedoch, dass er sich trotzdem nicht hilfesuchend an die Polizei oder AWO wenden könne, wenn er Gewalt durch die Securitys erfahre: „AWO, security, police are all together.” Er sagt, dass ein Polizist seine Hilfesuche mit den Worten „we are only here to empower the securities“ abwies. Als es in der Lindenstraße zu einem Brand kommt, bediente die Sozialsenatorin in einer Pressemitteilung vom 24. April das „Narrativ des kriminellen Ausländers“ und nutzt es als Delegitimierung der Proteste. Rechte Medien berichteten darüber und befürworten Stahmanns Vorgehen. Ein Video der Geflüchteten wird von einem rechten Account auf YouTube geteilt, darunter eine menschenverachtende und rassistische Flut von Hasskommentaren.
Ansu sieht den kommenden Tagen und Wochen mit großer Sorge entgegen und befürchtet viele Neuinfektionen. Auch die Quarantäne beschreibt er als unzumutbar: Viel Verzweiflung, Re-Traumatisierung, Repression. Den Menschen sei es nur möglich alle zwei Stunden für 10 Minuten in Begleitung von Securitys an die frische Luft zu gehen. Es soll passiert sein, dass der Ausgang willkürlich verwehrt wurde.
Amnesty International warnt 2016 vor strukturellem Rassismus in Deutschland
Selmin Caliskan, die Generalsekretärin von Amnesty International, warf Deutschland bereits 2016 vor, dass es deutliche Hinweise darauf gebe, „dass deutsche Behörden ein Problem haben mit institutionellen Rassismus, „also das Unvermögen, alle Menschen angemessen und professionell zu behandeln, unabhängig von ihrer Hautfarbe, ihres kulturellen Hintergrunds oder ethnischen Herkunft“. Außerdem gebe es deutliche Anzeichen für institutionellen Rassismus in Behörden, kritisiert Caliskan. Dieser zeige sich vor allem durch Vorurteile, Nichtwissen und Gedankenlosigkeit.
Als 120 Personen der Flüchtlingsunterkunft Lindenstraße plötzlich positiv getestet sind, spricht Anja Stahmann von „milden Verläufen“ und behauptet „alle Menschen seien symptomfrei“. Und weiter, dass der Krankheitsverlauf „interessant für Virologen“ sei. „Wir hellen damit das Dunkelfeld auf, wie nirgendwo sonst in Bremen”, weil sonst die Dunkelziffer an milden Verläufen oft unerkannt bleibe, erklärte die Sozialsenatorin. Zu dem Zeitpunkt ihrer Äußerungen war die Entwicklung der Krankheitsverläufe nicht absehbar und es lagen, laut Flüchtlingsrat, bereits zwei Menschen im Krankenhaus. Der Flüchtlingsrat kritisierte auch, die Sozialsenatorin reduziere die Geflüchteten, die sich gegen ihren Willen in Infektionsgefahr befinden, auf ein interessantes Forschungsobjekt, was „rassistisch“ sei. Wissenschaftler*innen in Bremen bewerten die Bremer Asylpraxis und die Situation der Geflüchteten in der Corona-Zeit als „rassistische Kontinuität“ in der postkolonialen Hansestadt-Geschichte.
„Politics risk our lives, it is like refugees are not human“
Ansu fühlt sich wie ein Mensch zweiter Klasse behandelt. Einige Geflüchtete seien seit einem Jahr in der Lindenstraße ohne eine Weiterbildung oder Perspektive. Er sagt, das Leben von Geflüchteten wurde während Corona fahrlässig riskiert, um diese weiter zentralisiert unterbringen zu können. Für ihn ist das Ausdruck einer inhumanen Asylpolitik, die Geflüchteten auf struktureller Ebene den Zugang zum Gesellschaftssystem unmöglich mache.
In Bremen spitzt sich der Konflikt zwischen Unterstützer*innen der Geflüchteten und der Politik öffentlich zu. Mittlerweile gab es mehrere Demos, darunter ein Autokorso und bundesweite Berichterstattung. Anja Stahmann reduzierte im April die Proteste um die Lindenstraße auf eine „kleine, lautstarke, Gruppe“. Ein breites Bremer Bündnis, die Grüne Jugend sowie einige Grünenpolitiker*innen kritisieren mittlerweile das Vorgehen der grün geführten Sozialbehörde: Auf Twitter verbreitet sich der Hashtag #ShutDownLindenstraße. Das transnationale Netzwerk Afrique-Europe-Interact und weitere Gruppen fordern seit zwei Wochen den Rücktritt von Anja Stahmann. Auf die Bremer Geschäftsstelle der AWO wurde ein Farbanschlag verübt. Die Awo und Sozialbehörde verurteilten das öffentlich als politisch motiviert. In einem Interview mit dem Weser Kurier sagt die Sozialsenatorin am 29. April, „die Kontroverse wurde aus der politischen Ecke befeuert, die das deutsche Asylrecht strukturell rassistisch findet“. Sie weist den Vorwurf von institutionellen Rassismus weit von sich.
Mittlerweile ist jede*r Zweite der Menschen in der Lindenstraße infiziert oder von der Krankheit genesen. Das ist weit über dem Infektionswert der restlichen Bremer Bevölkerung. Bis heute besteht die Sozialbehörde darauf, dass die Landesaufnahmestelle Lindenstraße professionell geführt und dass bestmöglichst gehandelt werde. Aktuell finde eine Reduzierung der „Belegdichte“ auf 250 Menschen statt. Eine Schließung der Einrichtung bleibe aber ausgeschlossen. Einige Bewohner*innen der Lindenstraße, so wie Ansu, sind mittlerweile dezentral untergebracht und nach eigenen Aussagen sehr erleichtert darüber. Der Protest um die Lindenstraße werde aber weitergehen. Ansu wünscht sich eine Grundsatzdiskussion darüber, wie in Bremen mit Geflüchteten umgegangen wird.
Der Name der Autorin wurde auf eigenen Wunsch durch die Redaktion entfernt.