Alle Welt schaut nach Brasilien. Neun Studenten der Hochschule für Künste in Bremen und eine Studentin aus Lüneburg waren vier Wochen mit der Kamera in Rio und Sao Paulo unterwegs und haben selbst geschaut. Herausgekommen sind dabei keine Schnappschüsse, sondern Bilder, die Geschichten erzählen und gleichzeitig Raum für eigene Deutung lassen. Während ihrer Zeit traf die Projektgruppe SHIFT Menschen, die von Umsiedelung betroffen waren, aber auch Konstrukteure, Bauarbeiter, Aktivisten und politische Akteure.
Lilly Bosse, Bennie Julian Gay, Cordula Heins, Carolin Klapp, Julia Maria Max, Janine Meyer, Carolin Nowicki, Ariane Pfannschmidt, Caroline Speisser und Djenna Wehenpohl kommentieren und analysieren in ihren Fotos die Veränderungen im Zuge der Fußball-Weltmeisterschaft und den Olympischen Spielen. Immer mehr lernten die Studenten dieses Land zu verstehen, das sich rasend schnell wandelt, wächst und vielen nur als Konstrukt durch die Medien vertraut ist. Wie war es dort?
Jana Wagner traf sich für Krosse mit den Studenten Ariane, Bennie und Caro zu einem Gespräch in der Hochschule für Künste in Bremen, um mit ihnen über Brasilien, Fotografie, Fußball und Ideale zu sprechen.
Krosse: Erzählt erst einmal über das Projekt. Wie habt ihr euch und euer Thema gefunden?
Caro: Eines Nachmittags auf dem Flur (lacht). Also nein, der Ausgangspunkt war eigentlich eine Arbeitsgemeinschaft.
Bennie: Ich glaub der erste Gedanke war zunächst der, dass wir zusammen ein Projekt machen wollten, das irgendwie in Richtung Fotografie gehen sollte. Während der Recherchephase sind wir dann auf die ganzen Probleme in Brasilien aufmerksam geworden: 2014 die WM und 1016 die Olympischen Spiele, das sind zwei richtig große Events. Das wurde dann spannender und spannender, je mehr man darüber las. Das war 2012 als wir begonnen haben,
Krosse: Wie habt ihr dann die Reise geplant. Hatten ihr eine feste Route?
Caro: Nein, wir haben uns überlegt, dass wir in Rio und Sao Paulo agieren werden, sieben Leute in Rio und drei in Sao Paulo. Wobei vielleicht wichtig zu sagen ist, dass Djennas Mama aus Brasilien stammt. Dadurch hatten wir auch die Kontakte zur Uni in Rio und die war dann bei einer Gruppe dabei, aber hat nicht fotografiert und hat auch für eine Gruppe übersetzt.
Krosse: Wie hat das funktioniert allgemein mit der Sprache? Hattet ihr dann dort Leute gefunden, die euch geholfen haben?
Ariane: Wir hatten im Vorhinein schon dafür gesorgt, dass wir dann Übersetzer haben und die waren auch essentiell für die Arbeit. Ohne sie wären viele Fotos nicht möglich gewesen.
Krosse: War es für ein wichtig ein Projekt außerhalb Deutschlands zu starten?
Bennie: Nein, überhaupt nicht. Das war auch so ein Punkt, an dem wir ziemlich gestrauchelt haben, als es dann um Sachen wie Exotismus ging und die Frage: Müssen wir wirklich so weit weg? Was hat das überhaupt mit uns zu tun? Und irgendwann stellten wir fest, dass das ziemlich viel mit uns zu tun hat, weil hier in Deutschland so viele Leute Fußball schauen, das sind westliche Konzepte. Wir leben 2014, alles ist in irgendeiner Form miteinander verwoben und alles was dort passiert hat auch Einfluss auf uns.
Ariane: Da die Fifa ja auch ein Schweizer Konzern ist…
Bennie: Genau. Und deutsche Unternehmen sind beteiligt, die dort bauen oder Zuschläge für Umbauten erhalten.
Krosse: Und dann hatten ihr also die Idee: Wir fahren nach Brasilien. Wie ging es dann konkret weiter mit der Planung und auch mit der Finanzierung. Habt ihr das selbst finanziert?
Caro: Also größtenteils schon. Wir haben dann irgendwann kurz vor Abflug noch eine Förderung von der Waldemar-Koch-Stiftung bekommen, aber eher für die Ausstellung. Auch die Hochschule und der Freundeskreis der Hochschule hat uns ein bisschen unterstützt – aber auch eher bei der Buchpublikation. Wir selbst haben da auf jeden Fall erstmal alle Kohle reingesteckt und Flüge und so etwas selber gezahlt.
Krosse: Hat sich eurer Fokus als ihr dort wart noch verschoben oder hattet ihr davor schon ein bestimmtes Ziel vor Augen?
Bennie: Der komplette Zeitraum ging ja über vier Wochen, das heißt es war alles ziemlich eng gesteckt. Die erste Woche waren wir nur an der Universität, belegten Kurse und haben erfahren wie beispielsweise Rio funktioniert, was eine Favela ist, was ist die Geschichte hinter der ganzen Sache ist. Das sind ja auch gänzlich neue Phänomene: Diese Struktur gibt es ja in Deutschland überhaupt nicht und das zu verstehen, war glaube ich super wichtig um sich überhaupt der ganzen Sache nähern zu können.
Ariane: Bis auf Djenna waren wir ja alle noch nie in Brasilien und wir haben natürlich auch schon im Vorhinein versucht uns soweit es ging irgendwie vorzubereiten. Bestimmte Arten von Fotografie wollten wir vermeiden, sowas Schnappschuss-artiges, bei dem wir durch die Straßen rennen und das fotografieren, was uns über die Linse läuft.
Krosse: Ihr habt analog mit der Großformatkamera fotografiert, das benötigt Zeit. Da sind Schnappschüsse ja auch kaum möglich. Sind eure Fotografien in diesem Sinne denn nicht mehr Inszenierung?
Caro: Erstmal ist doch jedes Bild irgendwie inszeniert, also egal wie ich fotografiere – ob analog mit der Großformatkamera oder digital.
Krosse: Ich hab gerade diese Bild mit dem Mädchen vor Augen, das auf einem Stuhl neben einem riesen Haufen von Gerümpel sitzt. Wie ist das zum Beispiel entstanden?
Bennie: Bei so einem Foto geht es eigentlich gar nicht unbedingt um die Geschichte hinter dem Bild. Das war in einer Communidade, die unmittelbar neben dem olympischen Park angesiedelt ist. Wir waren eben dort vor Ort und hatten mit den Leuten dort gesprochen, unter anderem die Familie kennen gelernt. Die konkrete Story hinter dem Bild ist, dass die Familie schon einmal umgesiedelt wurde um dann dorthin zu ziehen. Aber dieses Konstrukt aus Mobiliar und Gebrauchsgegenstände gehört ihrem Dad, der damit Handel betreibt. Es geht also nicht konkret darum, ob das ihre Möbel sind, sondern viel mehr die Frage: Was kann das darstellen?
Ariane: Indem wir vor Ort Geschichten gehört haben, entwickelten wir dann die Idee zu einem Bild. Das war dann oft spontan, also man hatte ja nicht unendlich viel Zeit. Aber es war schon immer ein Bezug zwischen dem was uns die Leute für Geschichten erzählen oder der Frage inwiefern sie in diesem Konflikt drin sind und dem was wir sehen.
Bennie: Wir wollen nie den absurden Anspruch haben zu wissen was passiert, sondern wir wollten auf das, was wir vorfanden, eingehen und versuchen das dann in ein Bild zu übersetzen.
Caro: Es gab eben vorher ein Gerüst, verschiedene Punkte, die wir festgelegt haben anhand dieser beiden Städte: Wir wollten Fotografien von urbanem Raum und von Personen, die in irgendeiner Form dort verwoben sind. Also es war ja die Idee möglichst viele Akteure zu fotografieren. Nicht nur Bewohnerinnen, die umgesiedelt werden, sondern auch Konstrukteure, Bauarbeiter oder zum Beispiel auch Menschen wie Raquel Rolnik, die UN-Sonderberichterstatterin für das Recht auf angemessenes Wohnen. Wir hätten ja auch gerne noch ein paar FIFA-Leute fotografiert…
Krosse: Habt ihr das versucht?
Ariane: Ja, also wir hatten sogar teilweise Kontakte, aber das war dann kurz vor Ende und das hat dann leider nicht mehr hingehauen.
Bennie: Ja, wobei zum Beispiel bei Coca-Cola – keine Chance. Da kommst du einfach nicht rein, wenn du unten stehst und keinen Termin hast.
Krosse: Euer Projekt heißt ja SHIFT, also Verschiebung, Verlagerung. Was hat sich bei euch persönlich nach der Reise verändert?
Bennie: Also was mich nachhaltig geprägt hat, ist, bekannte Strukturen nicht mehr einfach so selbstverständlich hinzunehmen, sondern immer zu fragen und zu analysieren. Es geht ja auch in der Arbeit darum, Alternativen weiterzudenken, auch ohne den Anspruch haben eine Lösung zu finden, sondern einfach nur die Erkenntnis: Wäre eine Alternative denkbar? Ich glaube eher auf einer abstrakten Ebene hat sich da bei mir was verändert. Es geht da um Wahrnehmung meiner eigenen Umwelt und die meines Umfelds und schlussendlich auch um die Rezeption von Bildern.
Krosse: Jetzt läuft ja gerade die WM. Hand aufs Herz. Schaut ihr die? Oder seid ihr nach eurem Projekt noch mehr davon abgerückt?
Caro: Ich hab auch vorher nicht sonderlich viel Fußball geschaut.
Ariane: Ne, ich auch nicht. Aber irgendwie bin ich jetzt schon noch ein bisschen mehr „anti” als vorher. Aber ich kann aber verstehen, wenn man das trotzdem gucken will.
Krosse: Aber habt ihr in Brasilen eher eine negative Stimmungslage gespürt oder habt ihr auch Menschen getroffen, die sich auf die WM im eigenen Land freuen?
Caro: Das kann man halt sehr schlecht verallgemeinern. Da gibt es auch Stimmen, zum Beispiel bei der Befriedung in einem Teil von Rio. Viele haben sich da auch gefreut, weil die Kinder dann dort spielen konnten. Und es sicherer als vorher sei – solche Stimmen gibt’s irgendwie auch. Auf der anderen Seite gibt es viele, die der Meinung sind, dass alles eigentlich nur eine Verlagerung der Ganzen ist: Die Polizisten sind genauso korrupt wie die Drogendealer vorher und es wird alles teurer, dadurch dass es an das öffentliche Stadtnetz angeschlossen wird. Aber generell ist die Art und Weise wie das ganze umgesetzt wird für die Menschen dort total intransparent.
Ariane: Also es gab kein Mitspracherecht – man konnte nicht abstimmen oder Vorschläge einbringen. Es wurde einfach von irgendjemandem entschieden und durchgeführt, aber ohne Teilnahme an dem Ganzen.
Caro: Da fällt mir noch ein Satz ein, der kommt mir immer wieder in den Kopf, von diesem älteren Mann, der aufgrund dieser Straße umgesiedelt werden sollte. Der hat gesagt: “Früher hast du geschrien und du wurdest ins Gefängnis gesteckt und heute schreist du und dich hört keiner.” Und das bringt es irgendwie auf den Punkt.
Die Ausstellung im Bremer Goethe Theater beginnt am 2. Juli 2014. Nähere Informationen gibt es hier.
Die Publikation des durch Crowdfunding finanzierten Buches gibt es seit 12. Juni bei Peperoni Books.
Jana Wagner