Sløborn – die fiktive Insel in der Nordsee nahe des dänischen Festlands dient auch dieses Mal wieder als Schauort einer Dystopie. Das Gesellschaftssystem ist zusammengebrochen. Was gilt, ist das Recht des Stärkeren und damit nur das eine: Überleben. KROSSE hat sich die Serie angeschaut.
Strandkörbe liegen im Sand, statt zu stehen. Plakate mit roten Versalien „Achtung Taubengrippe“ warnen vor dem Virus. Plastiktüten fliegen über den Asphalt wie Steppenroller über den Wüstenboden von Westernfilmen. Der Strom wird ausfallen, das Mobilfunknetz zusammenbrechen und die Ressourcen immer knapper werden.
Der Versuch bleibt ein Versuch
Die Evakuierung liegt vier Monate zurück. Nur noch eine Handvoll Menschen leben auf der Insel Sløborn. Unter ihnen die Hauptprotagonistin Evelin Kern und ihre drei jüngeren Brüder. Der Autor Nikolai Wagner taucht für die Kinder in die Rolle des Onkels „Niki“. Für Evelin bleibt der Mann mit Anzug, Krawatte und Kavalierstuch nur Herr Wagner. Sie übernimmt die Verantwortung, trifft ohne jegliche Diskussionen die Entscheidungen. Selbst der einzige Erwachsene unter ihnen fügt sich ihr und ist der Überzeugung „She is the boss.“ Keiner widerspricht den Anweisungen. Ihre Stimme klingt monoton.
Von Hotel zu Hotel wandern die Überlebenden der Resozialisierungsgruppe. Freja hinterlässt an jeder Rezeption eine Notiz der verbrauchten Lebensmittel. Sie fühlt sich verantwortlich für die Jugendlichen, versucht mit aller Kraft ihre Werte aufrecht und das Projekt „Neue Chance Sløborn e. V.“ am Leben zu halten. Zudem geistert der Drogendealer Jan Fisker über die Insel. Er bedient sich in den Geschäften des Ortes und nimmt sich das, was er braucht. Einzig und allein ein Drogendealer, ein Autor mit Drogenproblemen, die Überreste einer Familie und die der Resozialisierungsgruppe bewohnen die Insel in der Nordsee. Alle versuchen weiterzumachen. Aber der Versuch bleibt ein Versuch.
Totale Eskalation
Sie sind von Traumata geprägt und kämpfen gegen ihre Folgen an – mit allen Mitteln. Die besorgte Schwester fungiert wie ein Roboter ohne Gefühle. Ihre kleinen Brüder schreiben Massen an Briefe an die verschollenen Eltern. Doch die Umschläge werden niemals die Insel verlassen. Der Älteste ist seinen Flashbacks ausgesetzt. Die Jugendlichen mit ihrer kriminellen Vergangenheit betäuben Ängste mit Drogen, Alkohol und Bässen. Die Sozialarbeiterin klammert sich an ihre Vorstellung von Tugend und idealisiert sie. Doch die Wege der Umsetzung ihrer Integrität verlaufen in Bahnen, die weit Abseits jeder Ethik liegen – bis zur totalen Eskalation. Der Außenseiter, der sich zuvor als Anti-Held entpuppt hat, ringt mit Halluzinationen. Die Gestalt seines Vaters, der sich vor seinen Augen erschossen hatte, taucht immer wieder an seiner Seite auf. Seine Stimme übertönt jede eines Lebenden.
Einmal in der Woche legt ein Schiff im Hafen von Sløborn an. In Schutzkleidung, mit Gasmasken und Gewähren bewaffnet, plündern sie mit System ein Haus nach dem anderem. Sie werden als Piraten bezeichnet. Andere glauben, mit dem Tragen von Tarnkleidung zu Soldaten zu werden. Der Tod eines Menschen wird dann zu nichts mehr als einem Kollateralschaden. Evelin hat beschlossen, dass ihre Brüder und „Onkel Niki“ von der Insel fliehen werden. Sløborn sei kein sicherer Ort mehr. Aber das ist nicht der einzige Grund für die Entscheidung.
Erzwungene Nähe
Der Cast der Serie hat sich in der zweiten Staffel enorm reduziert. Konnte diesmal in die Tiefe der Figuren abgetaucht werden? Leider nicht, denn selbst die Hauptprotagonist:innen lassen die Zuschauer:innen auf Distanz. Insbesondere der Autor Nikolai Wagner, gespielt von Alexander Scheer hatte seine Glanzleistung in der ersten Staffel zurückgelassen. In der Fortsetzung agiert er nicht mehr und nicht weniger als eine Marionette ohne Haltung oder Meinung. Und auch die Rolle von Evelin Kern, verkörpert von Emily Kusche lässt die Betrachter:innen nur erahnen, in welchem emotionalen Käfig sie gefangen ist. An dieser Stelle fehlen jedoch Transparenz, Überzeugung und ein Minimum am Dialog. Überraschend hingegen und aus dem Schatten von Magnus Fisker (Roland Møller) getreten, sind die Szenen von Freja (Karla Nina Diedrich). Ihre Darstellung eines Menschen, der scheinbar seinen Verstand zu verlieren droht, ist abzukaufen. Und auch die Halluzinationen des Anti-Helden (Adrian Grünewald) sind überzeugend gespielt.
Die Serienfortsetzung besteht aus sechs Teilen, die jeweils an die 50 Minuten lang sind. Als Drehbuchautor, Regisseur, Produzent und Kameramann wieder mitverantwortlich ist Christian Alvart. Der Stil der Kameraführung, die Wahl der Motive und ihren Einstellungen ähneln der ersten Staffel sehr. Präsent sind vor allem Close Ups, die die Zuschauer:innen so nah an die Verzweiflung der Protagonist:innen bringen, dass sich diese schon erzwungen und unangenehm anfühlen. Neben den Bildern knüpft auch die Hintergrundmusik wieder an die erste Staffel an. Atonale Töne unterstreichen die Handlungen der Szenen. Sie bauen eine Spannung auf, die sich jedoch nicht vollständig entlädt. Zu Beginn kommt die Fortsetzung nicht ins Rollen. Die bekannte Ruhe vor dem Sturm gewinnt die Überhand – der Sturm bleibt jedoch aus. Auch wenn die Serie ihre Momente hat, liegt das Suchtpotential in weiter Ferne.
Das Recht des Stärkeren
Die Fortsetzung von Sløborn hat sich von dem Plot der ersten Staffel fast vollkommen abgekapselt. Im Fokus steht nicht mehr eine Pandemie und der Versuch ihrer Bekämpfung. In Sløborn 2 steht das Leben nach dem Zerfall eines Gesellschaftssystems im Zentrum. Im Zuge dessen auch, die Frage des Überlebens. Dabei wird ohne Abschweifungen die These von Charles Darwin das Recht des Stärkeren als neues und alleiniges Gesetz betrachtet. Gruppen spalten sich. Waffen sind der einzige Schutz und Gewalt die einzige Lösung. Statt zu reden, wird geschrien. Statt zu diskutieren, wird dirigiert. Strafen werden zur Folter. Und aus einem Streich wird ein Mord. Aber bei einem toten Menschen wird es nicht bleiben. Mit Anlauf und scheinbar exponentiell, eskaliert für alle die Situation.
Am 07. Januar 2022 wurde die erste Folge der zweiten Staffel von Sløborn ausgestrahlt. Noch bis zum 21. August dieses Jahres kann die ZDFneo original Serie auf der ZDF- Mediathek gestreamt werden. Ob es 2023 eine dritte Staffel zu sehen gibt, ist noch in Diskussion.
Den Trailer zur zweiten Staffel von Sløborn findet ihr hier.
von Anne-Kathrin Oestmann