Je näher das Abitur kommt, desto mehr Gedanken macht man sich um seine Zukunft. Während einige Freunde eine Ausbildung begannen, sich dem strengen Zeitplan eines dualen Studiums unterwarfen oder an der Uni ein wildes Studentenleben erwartete, packte ich meinen Trekkingrucksack und bereitete mich auf mein bis dato größtes Abenteuer vor: Bolivien! Es ist das ärmste Land des Kontinents und beheimatet zehn Millionen Menschen verschiedenster Ethnien auf einer Fläche, die viermal so groß ist wie Deutschland. Der Freiwilligendienst erschien mir so sinnvoll wie kaum eine andere Methode, um ein derart vielfältiges Land möglichst authentisch zu erleben.
Ein Bericht über den bunten Karneval, Chicha und Pachamama und warum wir uns über Deutschlands Straßen niemals mehr beklagen sollten!
Es fällt mir schwer, ein einziges Wort zu finden, das Bolivien beschreibt. Dieses Land ist alles auf einmal: hektisch, laut und dreckig ebenso wie paradiesisch, ursprünglich und reich an Flora und Fauna. Zum allerersten Mal habe ich diese extremen Unterschiede wahrgenommen, als ich aus La Paz, dem Regierungssitz, in die größte Stadt des Landes gefahren bin, nach Santa Cruz. La Paz ist voller Abgase, überall stehen Hochhäuser und viele Seitenstraßen der Stadt sind in einem desolaten Zustand. Der Charme der Andenstadt ist dennoch atemberaubend. Bei einer 360°-Drehung um die eigene Achse sieht man an den Hängen nur Häuser – fast so, als wäre nichts mehr vom Gebirge übrig, als wäre alles voll mit Leben. Vor allem nachts, wenn man vom Flughafen kommt und ins Tal hinunterfährt, wird man von einem Lichtermeer verzaubert. Aber La Paz ist kalt. Nachts muss man nahezu immer einen Schal tragen. Und weil mein Reisebus, in Bolivien liebevoll Flota genannt, über Nacht fuhr, habe ich mich natürlich auch warm eingepackt. Das war ein Fehler.
16 Stunden Fahrt hatte ich hinter mir, Serpentinen wohin das Auge sieht. Es war meine erste Fahrt ins Tiefland oder überhaupt in Bolivien. Geschlafen habe ich also nicht viel, allerdings konnte ich unter dem wolkenfreien Himmel alles bestaunen, woran wir vorbeifuhren – 16 Stunden lang wohlgemerkt. Es wurde heißer und heißer, ich schälte meine Klamotten von mir, lang lebe der Zwiebellook. Blätterlose, trockene Sträucher wichen allmählich Kakteen, die Vegetation wurde grüner und die Luftfeuchtigkeit lag bei gefühlten 100 Prozent. Irgendwann mittags um elf bin ich in Santa Cruz angekommen – bei 25° im Schatten. Es war schon ein extremes Erlebnis, 16 Stunden lang durch ein Niemandsland zu fahren, in dem dir höchstens eine andere Flota oder ein Tier entgegenkommt.
Was lerne ich daraus? Bolivianische Gelassenheit ist das A und O. Hier dauert alles länger.
Gelassenheit ist tatsächlich eine Tugend, die bei den Bolivianern an der Tagesordnung steht. Ich habe als Freiwillige in einem Internat auf dem Lande gearbeitet, wo Mädchen das Weben und Nähen lernen konnten oder alternativ eine Bäckereilehre absolvierten. Während meiner Zeit dort, in Sopachuy, war mein Internat dafür zuständig, das Dorffest auszutragen. Man muss dazu sagen, dass Bolivianer sehr gerne essen. Die Nummer eins auf dem Teller ist das Fleisch. Meistens ist alles sehr scharf; wenn’s nicht reicht, kommt eben noch ein wenig Aji, eine Art Chilipaste, obendrauf. Außerdem gibt es Nudeln, Reis und Kartoffeln. Zusammen. Ich habe es bis heute nicht verstanden, aber tatsächlich essen die Bolivianer gerne alle möglichen Arten von Kohlenhydraten zusammen in einer Mahlzeit. (Was man an uns Freiwilligen auch schnell gesehen hat – all die Kohlenhydrate haben es sich direkt auf den Hüften gemütlich gemacht.)
Was absolut nicht fehlen darf, wenn es um ein Dorffest geht, ist Chicha. Das ist ein Maisbier, das lange gären muss. Ich persönlich finde es – gelinde ausgedrückt – unappetitlich. Es gibt beim Trinken der Chicha und vieler anderer alkoholischer Getränke den Brauch der Pachamama. Es bedeutet so viel wie Mutter Erde. Bevor man trinkt, tröpfelt man ein wenig auf den Boden und bedankt sich bei der Pachamama für die Ernte und erbittet sich ein gutes neues Jahr und fruchtbaren Boden. Der Brauch an sich ist schön, denn es ist wichtig, sich auf das Essenzielle zu besinnen. Wäre da nicht der zweite Teil des Brauchs – man teilt gern. Oftmals hat man nur eine Kokosnuss-Schale, aus der getrunken wird. Mit einem knappen „Te invito“ (das heißt so viel wie: „Ich lad dich ein“) wird die Schale weitergegeben. Ob man will oder nicht, man muss trinken – denn wenn Bolivianer eines schlecht können, dann ist es Nein sagen. Sie sind sehr harmoniebedürftig und vermeiden Konfrontationen. Na gut, dacht ich, runter damit!
Was lerne ich daraus? Immer alles probieren, auch wenn’s (wirklich) widerlich schmeckt. Versehentlich kam es hierbei leider auch zu unwissentlichem Verspeisen von – Achtung – Schweinemagen.
Allmählich im neuen Land angekommen, stand nach etwa sieben Monaten Bolivien der Karneval an. Wenn gefeiert wird, dann während dieser Zeit. Bunte Kostüme, kurze Röcke, Teufelsmasken. Was ich gar nicht wusste: Nach Rio de Janeiro ist Oruro die Karnevalshochburg in Südamerika! Dementsprechend hieß es: Ab ins eisige Hochland, rein in die Party! Das bekannteste bolivianische Bier, Paceña, sponserte nicht nur das ganze Fest, nein – es floss auch in Strömen. In Wahrheit war es einfach ein nationales Saufgelage mit vielen hübschen Männern und Frauen in glitzernden Kostümen und vielen folkloristischen Tänzen. Man wird auch relativ gut auf das Karneval-Wochenende vorbereitet, denn die bekanntesten, traditionellen Songs laufen in jedem Radio rauf und runter. Es war eine sehr schöne Erfahrung, denn dass Menschen so viel Wert auf die Pflege alter Traditionen, wie in diesem Falle das Tanzen, legen, kenne ich aus Deutschland nicht. Dasselbe gilt für traditionelle Kleidung. Die indigenen Frauen tragen ihre schwarzen Haare ausschließlich als zwei geflochtene Zöpfe. Dazu Röcke, je nach Stand nur einer oder auch bis zu zwanzig Unterröcke. Oftmals tragen die Indigenen auch Goldschmuck – oder momentan sehr trendy: Goldzähne. Die Sandalen, die sie tragen, sind hergestellt aus alten Autoreifen – Recycling vom Feinsten.
Bolivien schafft es wirklich, sich tagtäglich von einer neuen Seite zu zeigen. Es ist schwierig, innerhalb eines Jahres, das ich als Freiwillige dort verbracht habe, alle Facetten aufzusaugen wie ein Schwamm. Jede Stadt hat eine andere Mentalität. Teilweise besteht zwischen Hoch- und Tiefland eine Rivalität; jede Region hat eigene Tänze, eigene traditionelle Kleidung, spezielle Delikatessen.
Ein Jahr – und es ist vergangen wie im Flug.
Der Freiwilligendienst hat nicht nur Spaß gemacht, sondern mich einer komplett fremden Kultur ein großes Stück näher gebracht. Es ist eine besondere Erfahrung, Teil einer Gemeinschaft zu sein und nicht nur als Rucksacktourist zu reisen. Jedem, der überlegt ins Ausland zu gehen und Interesse an sozialem Engagement hat, kann ich nur wärmstens ans Herz legen, einen Freiwilligendienst auszuprobieren. Das bietet so viele Möglichkeiten, eine Kultur kennenzulernen. Die Menschen öffnen dir ihre Türen und lassen dich einen Blick hineinwerfen. Und darum geht es doch.
Julia Makowski