Die derzeitige politische und gesellschaftlich angespannte Situation sorgt immer wieder für die Frage: „Wo bleibt unsere Menschlichkeit?“ Durch eine simple Box und mithilfe von Fremden soll bewiesen werden, dass wir sie noch besitzen. Eine einfache Idee bewirkt allerdings mehr, als erwartet.
von Lia Althaus
Eine Box. Im ersten Moment wirkt sie unscheinbar, aber sie soll etwas Bedeutendes ermöglichen – einen Lichtblick in schwierigen Zeiten. Während ich den Stand auf dem Campus der Uni Bremen einrichte, hoffe ich auf viele Teilnehmende. Die Idee ist zwar simpel, doch man trifft auf mehr Fragezeichen, als vorher erwartet.
Wann hast du das letzte Mal eine positive Erfahrung mit einem Fremden gemacht?
Ein simpler Satz, der anscheinend mehr mit Menschen anrichtet, als man denkt. Auf dem Campus stelle ich eine Box auf, mit ein paar Stiften und Kärtchen. Neben der Box steht auf einem Zettel eine Erklärung des Projekts. An dem Tisch hängt eine Pappe mit der Frage. Die Leute sollen auf den Kärtchen anonym ihre letzte positive Erfahrung mit einem Fremden schreiben und ihn in den Schlitz der Box werfen. Anhand dieser Antworten soll diese Reportage hier entstehen, um jedem wieder die Menschlichkeit vor Augen zu führen.

Einfache Frage, schwierige Antwort
“Mitten auf der Kreuzung – ich unterwegs mit dem Rad und Kind auf dem Rücksitz – riss mir die Einkaufstasche und landete auf der Straße. Eine sehr hilfsbereite, geduldige Frau war sofort zur Stelle, um mir zu helfen. So war es halb so schlimm.”
Um vorab eine erste Einschätzung zu bekommen, frage ich in meinem Bekanntenkreis: „Wann hast du das letzte Mal eine positive Erfahrung mit einem Fremden gemacht?“ Ohne wirkliche Erwartungen frage ich Lea, eine gute Freundin von mir. Wir sitzen in der GW2-Cafeteria, einem der Hauptgebäude der Universität Bremen. Es ist ein sonniger Tag im Februar, und die ersten frühlingshaften Sonnenstrahlen kämpfen sich durch die graue Wolkenmauer. Da gerade die Klausurenphase ansteht, wollen wir etwas produktiv sein. Ich erzähle ihr von meiner Idee und frage sie nach ihrer letzten Erfahrung. Ihr Gesichtsausdruck: offen, allerdings verwundert. Sie überlegt kurz und wirkt, als hätte man sie gerade nach einer Erklärung von Quantenphysik gefragt. Ihre Antwort kommt allerdings unerwartet: „Ich kann mich da ehrlicherweise nicht dran erinnern. Aber ich kann dir von einer negativen Erfahrung berichten!“
Eine Antwort, die auch bei anderen Menschen immer wieder fällt. Ihr fällt zwar etwas später eine Erfahrung ein, doch selbst die ist nicht wirklich positiv. Auch mit mehreren Personen tritt dasselbe Erlebnis auf – keiner kann sich im ersten Moment an eine positive Erfahrung erinnern.
Es tritt die erste Neutralität ein. Mir persönlich fallen spontan mehrere Beispiele ein, in denen ich positiv von fremden Menschen überrascht wurde. Beispielsweise, als ich in der Bahn saß und ein junges Pärchen mit einem Baby zustieg. Das Baby fing an zu weinen, und egal, was die Eltern machten, sie konnten es nicht beruhigen. Neben ihnen saß ein junger Mann, er war ungefähr Anfang 20. Das Baby schaute ihn an, und er fing an, Grimassen zu ziehen. Es begann zu lachen, und den Rest der Bahnfahrt über bespaßte er das kleine Kind. Auch wenn es nur eine Kleinigkeit war, schaffte er es, mehrere Menschen um ihn herum glücklich zu machen. Diese Erfahrung ist schon länger her, trotzdem erzähle ich gerne Menschen von dieser Geschichte, wenn sie mich fragen: „Wo ist unsere Menschlichkeit geblieben?“
Unerwartete Ergebnisse
“Ich hatte keine Bankkarte dabei und wollte einen Textmarker aus dem Automaten (an der Bibgarderobe) holen. Ich habe jemanden gefragt, ob er die Karte ranhalten kann, und ich würde ihm das Geld bar geben. Als der Textmarker rausgefallen war und ich ihm das Geld geben wollte, meinte die Person nur: ‚Passt schon!‘, lächelte und ging. War eine sehr nette kleine Geste.”
Während ich die einzelnen Sachen für das Projekt besorge – von der Box bis hin zu den Stiften –, überlege ich mehrmals, ob Leute überhaupt teilnehmen werden. Allerdings muntert mich Lea mehrmals auf und ermutigt mich, dem Ganzen nachzugehen. Auch aus anderen Umfeldern bekomme ich dieselbe Reaktion. Zwar fallen wenigen Leuten Beispiele ein, allerdings will jeder das Ergebnis des Experimentes wissen. Am nächsten Morgen fahre ich gespannt zur Uni. Während ich in der Bahn sitze, fallen mir viele verschiedene Szenarien ein, die durch die Box auftreten könnten. Doch auf das, was mich in der Uni erwartet, bin ich nicht vorbereitet. Auch hier werde ich wieder von Lea und von einer Freundin von ihr, Finja, unterstützt. Ich kenne Finja zwar nicht, trotzdem hilft sie mir gerne bei meiner Idee und greift mir unter die Arme. Beide helfen mir dabei, einen Tisch aus dem Glaskasten in Richtung Campus zu bewegen, den Stand zu dekorieren und die einzelnen Zettel zu befestigen. Der Tisch wirkt auf dem leer gefegten Campus im ersten Moment verloren. Eine Box mit Blumenmuster wirkt zunächst so, als würde sie nicht dorthin gehören.
Zunächst bleibe ich am Stand stehen, merke allerdings schnell, dass nur wenige Leute Interesse zeigen. Ich setze mich gegenüber von dem Tisch auf eine Sitzgelegenheit und fange an zu beobachten. Dafür, dass Semesterferien sind, sind vergleichsweise viele Menschen auf dem Campus. Da gerade Mittagszeit ist, pilgern viele in größeren Gruppen zur Mensa, um sich dort zu stärken. Mein Stand steht neben der Mensa, wodurch die meisten von ihnen direkt an ihm vorbeigehen. Während ich erwartungsvoll die vorbeistreifenden Menschen beobachte, bleibt mein Blick immer wieder am leeren Stand hängen. Wenige interagieren mit ihm. Die meisten lesen sich noch nicht einmal den Zettel auf dem Tisch durch. Manche bleiben kurz stehen und wirken angetan. Allerdings hält dies nicht lange an. Eine Gruppe bleibt kurz stehen und regt sich darüber auf, dass es nur negative Erfahrungen mit Fremden gibt. Von vielen anderen nimmt man nur ein Kopfschütteln und Unverständnis wahr. Es vergeht eine Stunde, ohne dass jemand einen Zettel ausfüllt.
Ein Perspektivenwechsel
„Ich war im Zug auf dem Rückweg von Amsterdam nach Bremen. Zuerst hat mir eine niederländische Dame dabei geholfen, die Durchsage zu verstehen. Durch eine Verspätung hätte ich danach fast meinen Anschlusszug verpasst, aber eine andere Familie hat mir geholfen.“
Lea und ich tauschen uns etwas aus und beschließen, den Tisch etwas mehr in die Mitte zu stellen. Währenddessen werden wir von einer Frau in unserem Alter angesprochen. Sie fragt neugierig, was wir dort machen. Eine offene und herzliche Aura umgibt sie, während sie sich interessiert nach dem Projekt erkundigt. Gefesselt hört sie der Erklärung und auch der bisherigen Enttäuschung zu. Sie spricht mir zu, ermutigt mich, weiter an der Idee zu arbeiten. Tatsächlich versteht sie die bisherige Verwunderung und stimmt zu, dass Negativität nicht überwiegen sollte. Ein Satz bleibt mir aus dem Gespräch im Kopf: „In was für einer Welt leben wir, in der positive Erfahrungen nichts mehr wert sind?“
Eine Sichtweise, die im Prozess vorher nicht wirklich präsent war. Warum auch? Das Projekt ist durch Positivität entstanden und soll genau diesem Punkt widersprechen. Während nun weitere Gruppen sich durch den Campus bewegen, schreibe ich meine Gedanken zu diesem Satz nieder. Mittlerweile sitze ich alleine auf dem Campus und merke, wie mehr Leute auf den Tisch zugehen und ihre Erfahrungen verschriftlichen. Eine weitere junge Frau kommt an den Stand und scheint mit jemandem zu telefonieren. Sie ist schon vor geraumer Zeit an dem Stand vorbeigelaufen und hat ihn verwundert gemustert. Allerdings hat sie sich nach kürzerer Überlegung dazu entschieden, weiterzugehen. Doch nach etwas vergangener Zeit scheint ihr etwas eingefallen zu sein. Sie fängt an, einen Zettel auszufüllen, und ich spreche sie an. Ich frage sie, ob ich ein Foto davon machen kann, wie sie den Zettel in die Box wirft, und wir kommen ins Gespräch. Ihre zugängliche und authentische Ausstrahlung machen es einfach, ins Gespräch zu kommen. Ich berichte ihr von bisheriger Erfahrung und erlange viel Zuspruch. Als sie sich von mir verabschiedet, umarmt sie mich und wünscht mir weiterhin viel Erfolg. Es ist zwar nur eine Kleinigkeit gewesen, aber sie löst etwas unglaublich Positives aus. Eine weitere Erfahrung, die Menschlichkeit beweist.

Weiterhin beobachte ich die Interaktion der Menschen mit der Box. Besonders im Gedächtnis ist mir eine Mutter mit ihrem Kind geblieben. Während sie ihrem Kind das Prinzip des Standes erklärt, füllt sie einen der Zettel aus. Sie spricht mit ihrem Kind über positive Erfahrungen, die beide zusammen gesammelt haben. Das Kind fängt mit den übrigen Stiften an, auf dem Stand zu kritzeln. Als die Mutter das bemerkt, erklärt sie dem Kind besorgt, dass das nicht gehen würde. Das Kind entschuldigt sich, und die beiden gehen weg. Die Kritzeleien auf dem Tisch sorgten für genau das, was das Projekt aussagen soll: Menschlichkeit. Ein Kind, das nicht darüber nachdenkt, ob seine Zeichnungen einem ästhetischen Bild entsprechen. Es zeichnet, weil es ihm Spaß macht. Auch wenn die Zeichnung klein war, hat sie dem Tisch Leben eingehaucht.
Wie unsere Wahrnehmung uns einen Streich spielen kann
“Als ich letztens in einem Café war, war mein Deutsch leider nicht so gut. Die älteren Herrschaften in dem Café waren allerdings unglaublich lieb zu mir. Sie haben versucht, eine deutsche Konversation mit mir zu führen, wodurch ich mehr Selbstvertrauen darin gefunden habe, weiterhin Deutsch zu lernen.”
Die Mittagszeit neigt sich dem Ende zu. Der Campus lichtet sich, und die Mensa wird immer leerer. Ich fange an, den Stand zusammenzupacken, und gehe positiv gestimmt nach Hause. Auf dem Rückweg denke ich viel über meine neu gewonnenen Erfahrungen nach. Auch hier bleibt mir der Satz über unsere Wahrnehmung weiterhin im Kopf. Negative Erfahrungen sind nicht immer etwas Schlechtes. Gewisse Skepsis ist der Grund, warum wir uns selbst schützen können. Doch ab dem Moment, in dem wir nichts anderes mehr wahrnehmen wollen, wird es gefährlich für unsere Gesellschaft. Anstatt mit offenen Augen und Ohren durch die Welt zu gehen, verschließen wir uns.
“Als ich mich schlecht gefühlt habe, habe ich einen Spaziergang im Viertel gemacht und wurde von mehreren Fremden unheimlich lieb auf meine Kleidung angesprochen. Bei solchen Komplimenten muss ich immer, wenn ich die Kleidung anziehe, daran denken.”
Vielleicht kommt es nicht immer auf die großen Taten an. Vielleicht ist schon die Hilfe von einer fremden Person der Auslöser für eine positivere Wahrnehmung. Finja und ich kannten uns nicht, trotzdem hat sie Freunde von sich zu meinem Stand gebracht, die ihre Erfahrungen mit mir geteilt haben – eine kleine positive Tat, die mir sehr geholfen hat. Unsere Wahrnehmung beeinflusst unser Verhalten. Wer nur auf Negatives achtet, wird auch nur Negatives sehen. Doch vielleicht reicht schon eine kleine positive Begegnung, um den Blick zu verändern. Vielleicht hat heute jemand wegen dieser Aktion einem Fremden ein Lächeln geschenkt. Und vielleicht ist genau diese Kleinigkeit, die im ersten Moment unbedeutend scheint, der Anfang von mehr Menschlichkeit. Unsere Wahrnehmung ist durch bewusste Entscheidungen beeinflusst. Wir können individuell entscheiden, wie wir etwas wahrnehmen wollen, worauf unser Fokus liegt und was wir sehen wollen.
Wann hast du das letzte Mal eine positive Erfahrung mit einem Fremden gemacht?
