Umgang mit Pfeil und Bogen, Schwimmen, Reiten, Fechten, Jagen, Dichtkunst und Schach spielen. Das sind die „septem probitates“, die sieben ritterlichen Tüchtigkeiten aus dem Mittelalter. Schon damals erfreute sich das Schachspiel hoher Beliebtheit und, wie die Aufzählung beweist, hohen Ansehens. Heute ist das ein bisschen anders. Das einstige „Spiel der Könige“ gilt in weiten Kreisen als „Spiel der Nerds“. Die Weltmeisterschaft in diesem November nimmt KROSSE als Anlass, um sich mit der Sportart, mit der aktuellen Begegnung und einer ähnlichen vor 40 Jahren zu beschäftigen.
Richtig gelesen: Sportart – Auflösung später. In Chennai, Indien treffen sich seit dem 08. November Titelverteidiger und Lokalmatador Viswanathan (kurz: Vishy) Anand und der Herausforderer aus Norwegen: Magnus Carlsen. Soweit, so gut, aber das Duell birgt weit mehr Ungleichheiten als die Aussprache der Vornamen. Anand (43) ist seit 2007 ungeschlagener Weltmeister. Der introvertierte Inder gilt als mathematisches Genie und kalkuliert komplexe Stellungen auf dem Brett so schnell wie kein Zweiter. Herausforderer Carlsen ist seit seiner Kindheit ein Star. Schon mit 13 schlug er ehemalige Weltmeister und erreichte den Rang des Großmeisters so schnell, wie kein anderer vor ihm.
Der heute 22-Jährige verfügt über eine hohe Telegenität, wurde von dem „Time Magazine“ als eine der 100 einflussreichsten Personen der Welt bezeichnet und wird gesponsert von dem niederländischen Modelabel „G-Star-Raw“. Die Skandinavische Antwort auf Miley Cyrus. Die Relevanz dieser Auseinandersetzung beweist das mediale Echo, das dieses Spiel erfährt. Seit 1972 wartet man in der Schachwelt auf solch eine große Partie. Vor gut 40 Jahren trat der Amerikaner Bobby Fischer gegen den Russen Boris Spassky an. Dieses Spiel wurde zum elitären Schlagabtausch zweier Systeme. Nato gegen Warschauer Pakt auf 64 Feldern.
Der Hauch Irrsinn
„Ich möchte, dass sie nach Island fahren und den Russen schlagen“, soll Henry Kissinger, damaliger Sicherheitsberater des US-Präsidenten Nixon, dem zögernden Fischer am Telefon gesagt haben. Erst hat sich der 29-Jährige aus Chicago über das Preisgeld beschwert, dann, als er schließlich in Reykjavik eingetroffen ist (erst Tage nach dem ersten Spiel), war ihm das Licht zu grell, der Stuhl zu ungemütlich, das Publikum zu laut und in den Kameras vermutete er sowjetische Spionagewerkzeuge. Robert „Bobby“ Fischer, der bis heute als der beste Spieler aller Zeiten gilt, spiegelte das Exzentrische wieder, den Hauch Irrsinn, den man bei einem Mann seiner Genialität vermutet. Dass das Staatsoberhaupt seines Landes sich im Vorfeld einschaltete, hatte einen einfachen Grund: Seit 1948 hat die UdSSR den Weltmeister gestellt und somit die intellektuelle Vormachtstellung im Kalten Krieg proklamiert. Es hat 24 Jahre gedauert, bis 1972 der junge Bobby Fischer antrat, um den amtierenden Weltmeister herauszufordern. Nach knapp zwei Monaten setze sich der Amerikaner im „Kampf der Systeme“ gegen den Russen durch.
Das später als „Match des Jahrhunderts“ in die Geschichte eingegangene Spiel war einer der letzten öffentlichen Auftritte Fischers. Stichwort Irrsinn: Fischer litt an Verfolgungswahn und machte im späteren Verlauf seines Lebens mit antisemitischen und antiamerikanischen Äußerungen auf sich aufmerksam. Zug um Zug in den Wahnsinn. Nachdem ihm die amerikanische Staatsbürgerschaft entzogen wurde, starb er vereinsamt in Island. Auf der Insel im Nordatlantik, die Austragungsort des Spektakels war, wird die Brillanz Fischers bis heute verehrt.
Barfuß oder Lackschuh
Ob Napoleon, Humphrey Bogart, Otto von Bismarck oder Harry, Ron und Hermine. Alle spielten oder spielen Schach (Harry, Ron und Hermine versuchen schließlich für jeden Leser aufs Neue, den Stein der Weisen zu erreichen). Fast jeder weiß, wie das Spiel funktioniert und fast alle haben es irgendwo irgendwann schon einmal gespielt. Der gesellschaftliche Einfluss des Spiels ist unbestritten. Alltägliche Konfrontation findet sich auch in unserer Sprache, da Ausdrücke wie „Zugzwang“ oder „jemanden in Schach halten“ offensichtlich dem Spiel entspringen. Oft wird kritisiert, dass Schach langweilig sei, sowohl als Zuschauer als auch als Spieler. Zweifelsohne bedarf es eines gewissen Interesses und eines Verständnisses für die Tradition und Faszination des Königsspiels, um es als spannend oder aufregend zu erachten. Oder schaut irgendjemand einfach so Baseball? Eben. Jedem Spiel muss man, um es zu verstehen und um es zu mögen, eine Chance geben.
Der Reiz und das Besondere am Schach ist, dass es keine Fehlentscheidungen von Schiedsrichtern gibt, keine zufällig erzielten Tore, kein Glück – Sekt oder Selters, Barfuß oder Lackschuh. Wie es auch kommt: Die Schuld dafür liegt bei einem selbst. Das kann so grausam sein, aber auch genauso schön. Was den Ruf des Spiels und der Spieler angeht, so erfuhr der Schach schon immer Höhen und Tiefen. Mal war es das Spiel der Ritter und Geistlichen, dann das der Bauern und des einfachen Mannes, später Erkennungsmerkmal der Intellektuellen und heute wird es eher belächelt und assoziiert mit Hornbrillen und Zahnspangen. Die aktuelle Weltmeisterschaftsbegegnung könnte aber ein Auslöser für das nächste Hoch sein. In Norwegen war Schach auch nie ein sonderliches Thema. Seitdem Magnus Carlsen aber zum weltbesten Spieler avanciert ist, wird Schach sogar in der Schule gelehrt.
Mozart als Posterboy
Der „Mozart des Schachs“ringt speziell eine Fähigkeit mit, die ihn neben seiner Brillanz am Brett zu dem besten Spieler der Welt macht. Carlsen ist leidenschaftlicher Sportler und zieht aus dem eigentlich als Ausgleich zum Schach gedachten Hobby einen Nutzen. Auch in dieser Hinsicht absolut genial. Schachspiele können in der Weltspitze bis zu acht Stunden und mehr dauern. Wenn seine Gegner zermürbt auf dem Stuhl hin und her rutschen und beginnen, unkonzentriert zu handeln, schlägt der „Posterboy“ aus einem Vorort von Oslo zu. Schachsport in Perfektion.
Die Schachweltmeisterschaft geht mindestens bis zum 21. November. Weitere Informationen über Spieler, Spielstand und Termine findet ihr hier.
Maximilian Kamp