200 Jahre Tierischer Aufstand – 200 Jahre Bremer Stadtmusikanten in Kunst, Kitsch und Gesellschaft: Seit der Erstveröffentlichung der „Bremer Stadtmusikanten“ im Jahre 1819 in den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm fasziniert die Tierfabel um Esel, Hund, Katze und Hahn Groß und Klein. Aus diesem Anlass zeigt die Kunsthalle Bremen vom 23. März bis 1. September 2019 den Besuchern in einer Sonderausstellung, kuratiert von Dr. Manuela Husemann, die Wege der tierischen Gefährten von Bremen in die Welt.
Der Traum, ein Stadtmusikant in Bremen zu sein – die frühere Bedeutung des Märchens
Obwohl Esel, Hund, Katze und Hahn im Märchen ihr Ziel, nach Bremen zu gehen und dort Stadtmusikant zu werden, nie erreicht haben, hat sich der Weg dahin – auch noch 200 Jahre nach Veröffentlichung des Märchens – allemal gelohnt: Der Kampf um das eigene Überleben, die Kraft, auch in aussichtslosen Situationen optimistisch zu bleiben und die Suche nach einem eigenen Platz in der Welt haben Generationen von Menschen gezeigt: „Einigkeit zahlt sich aus und das gilt nicht nur im Räuberhaus!“
Die vier Stadtmusikanten verkörpern das Gesindel um 1800: Alt und im Dienst schwach geworden, wurden die Diener für die Hofbesitzer nutzlos und diese warfen sie ohne Aussicht auf Bezahlung und Unterkunft hinaus. Bremen als große Hafen- und Handelsstadt galt zu dieser Zeit als idealer Zufluchtsort für ein besseres Leben – für die obdachlosen Diener aber wohl nur eine märchenhafte Vorstellung. Auch das Einkommen als Stadtmusikant zu sichern, war zur Zeit der Veröffentlichung des Märchens wohl nur im Traum möglich. Zwar pflegte Bremen jahrhundertelang die Tradition einer Ratsmusik, in welcher den Musikern Beamtenstatus eingeräumt wurde. Doch 1751 wurde diese Ratsmusik mit der Militärmusik zusammengelegt, wodurch sie nach und nach aus dem öffentlichen Leben verschwand. Nur im Märchen lebt diese Tradition noch fort.
Kommen die Bremer Stadtmusikanten tatsächlich aus Bremen?
Bis das Märchen vor 200 Jahren erstmals gedruckt wurde, wurde es von Generation zu Generation mündlich überliefert. Tatsächlich stammt die Erzählung aus dem Oberweserraum. Dort wurde sie wohl unter anderem von einer Familie aus Ostwestfalen verbreitet. Ist mit Bremen also vielleicht doch nicht die 200 Kilometer entfernte Hansestadt gemeint? Der Journalist Gerrit Reichert will herausgefunden haben, dass mit Bremen auch die Landschaft zwischen Paderborn und Höxter, „Bremer Berg“, gemeint sein könnte. Anderer Meinung ist der Märchenforscher Heinz Rölleke. Seiner Ansicht nach ist die Erzählung ein Geniestreich eines westfälischen Adeligen gewesen, welcher die dort bekannte Stadtmusik in Bremen als Tiergejaule verspottete.
Gemeinschaft und Empathie – die heutige Bedeutung des Märchens
Darauf kamen die drei Landesflüchtigen an einem Hof vorbei, da saß auf dem Tor der Haushahn und schrie aus Leibeskräften. ‘Du schreist einem durch Mark und Bein,’ sprach der Esel, ‘was hast du vor?’
Die zentralen Motive der Erzählung, Wohnungs- und Heimatlosigkeit, Migration, Armut, Ungerechtigkeit und Ausgrenzungen sind heute wie früher noch aktuell. Das Märchen ist sehr sozialkritisch gegenüber unserer Gesellschaft. Wir werden aufgefordert, für andere Menschen einzustehen und für Gerechtigkeit und Gleichheit zu kämpfen. Ein Raum der Bremer Kunsthalle ist mit den Kunstwerken gefüllt, die die Bedeutung des Märchens von heute repräsentieren. Das Motto der Kunstwerke ist: Nur zusammen sind wir stark!
Dieses Motto nimmt sich besonders die Serie „Einer fehlt“ von Ayse Erkmens zu Herzen. 30 000 Tierfotografien von Esel, Hund, Katze und Hahn wurden im Rahmen des Projektes der „Gesellschaft für Aktuelle Kunst in Bremen“(GAK) jeweils einzeln in Bremen verteilt. Erst durch Kommunikation mit anderen Besuchern konnte die Serie der vier Tiere zusammengefügt und die Verbindung zu den Bremer Stadtmusikanten hergestellt werden. Nicht zu übersehen sind die vier Plüschkostüme der Bremer Stadtmusikanten in der Mitte des Kunstraumes. Sie stehen nicht aufeinander, sondern hängen ziemlich trostlos übereinander. Soviel Ironie bei soviel Ernst: In den Kostümen steckt normalerweise die illegal eingewanderte Familie Sierra, die auf das Geld für die Performance angewiesen ist. Ein Aufruf zum Aufstand ist das Gemälde von Karl Horst Hödicke. Wenn man als Besucher vor dem großen Gemälde steht, erinnert das eigentlich sehr wenig an die uns bekannten Bremer Stadtmusikanten. Die vier Tiere mit intensiven Farben und gegenläufigen Blickrichtungen erscheinen sehr aggressiv und kampfbereit. Sie sollen die politische Lage der frühen 1980er Jahre in West-Berlin symbolisieren. Damals wurden über 150 leer stehende Häuser besetzt, um gegen Luxussanierungen und Mietpreissteigerungen zu demonstrieren. Die Tiere sind eine Metapher der Aufständischen, der Weltverbesserer und Hoffnungsvollen – derjenigen, die etwas riskieren, um etwas zu verändern.
Tierischer Zusammenhalt statt Hass
Am Beeindruckendsten war für mich Glenn Ligons Gemälde „Stranger“: Als Besucher sieht man nur eine weiße Leinwand mit einer aus Kohlestaub verwischten Schrift. Schwarz auf Weiß. Eigentlich ziemlich unspektakulär, denn der Text ist nicht zu entziffern. Aus den Hintergrundinformationen habe ich dann entnommen, dass es in dem Text um den afroamerikanischen Schriftsteller Baldwin geht, der in einem kleinen Dorf in der Schweiz aufgrund seiner Hautfarbe ausgegrenzt wurde. Statt klein beizugeben, wird der Besucher dazu aufgefordert, seine Stimme gegen Hass und Ausgrenzung zu erheben.
Der tierische Aufstand der Bremer Stadtmusikanten könnte also als Vorbild für einen menschlichen Aufstand verstanden werden. Denn Esel, Hund, Katze und Hahn sehen sich selbst – unabhängig von Herkunft und Rasse – ganz selbstverständlich als gleichwertig an und profitieren so von ihrem Zusammenhalt. Ob Tier oder Mensch: Zusammen ist man nun mal stärker!
von Catharina Hövermann
Bildquelle: KROSSE