Am Tag vor Beginn des Hurricane stellt sich der Rolling Stone in seiner Online-Ausgabe die Frage, ob Arcade Fire derzeit womöglich die größte Band der Welt sind. Die Kollegen waren offenbar schwer begeistert vom Konzert der Kanadier in Berlin. Das erhöht die Erwartungen an den Auftritt auf dem größten Festival in Norddeutschland noch einmal mehr und ist Grund genug, sich in diesem Bericht auf den Headliner des ersten Tages zu konzentrieren.
Ausgerechnet die gefühlt kälteste Nacht im Sommer 2014 haben sie sich also für ihren einzigen Auftritt im Norden ausgesucht. Aber da muss man nun durch, wie man auch durch das Konzert der fast zur Boyband verkommenen Kooks unmittelbar vor dem Top Act durch musste. Nachdem sich das Publikum (in der Mehrheit kreischende Mädchen) fast komplett vor der Green Stage ausgetauscht hat, geht es los: Eine lebende Disco-Kugel kündigt auf der winzig kleinen Bühne (die später noch eine wichtige Rolle spielen sollte) mitten im Publikum „Reflektor“, die erste Single-Auskopplung des gleichnamigen, aktuellen Albums und Motto der Tour, auf der Hauptbühne an. Und diese Bühne hat sich gegenüber der vorherigen Konzerte völlig verändert: eine riesige Videowand, vier enorme Spiegel, die von der Decke hängen, überall kleine Spiegel, weiße (!) Aufbauten, Monitorboxen und Instrumente kündigen etwas ganz Großes an. Die zwölfköpfige (!) Band spiegelt diesen Style in – na sagen wir mal für eine Alternative-Band ungewöhnlichen – Outfits wider. Sie feuern zu Beginn einen Klassiker nach dem anderen ab, „Neighborhood #3 (Power Out)“, gefolgt von „Rebellion (Lies)“, bei denen sich eine geradezu unheimliche Spielfreude und Energie ihren Weg bahnt und das Publikum mitreißt. Es gibt kaum eine Pause zum Luftholen, auch die Band steigert sich zu Höchstleistungen. Wer noch nie erlebt hat, wie sich die zwölf Multi-Instrumentalisten fast nach Belieben an den Instrumenten abwechseln, steht sprachlos und staunend vor der Bühne, wird aber doch auch immer wieder zum Tanzen animiert.
Auf der Nachbarbühne zündet Casper offenbar derweil ein paar leuchtende Böller, doch das wahre Feuerwerk brennen Arcade Fire ab. Im Mittelpunkt des Sets stehen die neuen Songs, die, wie „Joan of Arc“ und „We Exist“, live fast noch emotionaler aufgeladen sind, als in der Studioversion. Aber auch „The Suburbs“ und „Ready to Start“ werden viel umjubelt hinter einander gespielt. Zwischendurch ertönt „Komm gib mir Deine Hand“, tatsächlich in der deutschen Version der Beatles, wobei sich die Bühne mit als Band verkleideten Tänzern (hier kommen die aus dem „Reflektor“-Video bekannten, riesigen Pappköpfe zum Einsatz) noch weiter füllt – offensichtlich selbst zur Überraschung von Sänger Win Butler, der aber schnell mit einsteigt und augenzwinkernd dem Absurden fröhnt. Ein an Ungewöhnlichem nicht gerade armer Abend erfährt einen weiteren Höhepunkt mit „It’s Never Over (Oh Orpheus)“, bei dem Régine Chassagne auf der B-Bühne und Win Bulter auf der Main Stage sich im Duett über den Köpfen des Publikums ihre nie endende Liebe versichern. Was jetzt fast schon kitschig klingt, ist live allerdings äußerst faszinierend und bewegend. Viel zu schnell vergeht die Zeit, sodass sich das Ende nähert, bei dem die Band mit „Normal Person“, „Here Comes the Night Time“ und „Wake Up“ noch einmal alles geben.
Arcade Fire haben damit die Messlatte für alle Bands sehr hoch gelegt und beweisen, was Alternative heute bedeuten kann: Euphorie und Melancholie, Energie und Emotion, Einfachheit und Exzentrik, Authentizität und Style – und das alles geballt in einem einzigen Auftritt. Es bleibt nur zu hoffen, dass diese Performance in voller Länge gefilmt wurde und veröffentlicht wird. Ob Arcade Fire nun die beste Band der Welt ist oder auch nicht – es bleibt die Erinnerung an ein wahrhaft perfektes und aufregendes Konzert auf dem Hurricane 2014.
https://www.youtube.com/watch?v=h4OYYVHAmKk
Marco Höhn