Wenn es um Liebe geht, steht für die meisten das monogame Beziehungsmodell außer Frage – dabei erweist sich das Treueprinzip als durchaus fragwürdig. Doch neben der Monogamie gibt es durchaus andere Arten von Partnerschaft. KROSSE stellt euch das Modell der offenen Beziehungen vor – um Vorurteile abzubauen und zu zeigen, dass Liebe nicht immer dem gleichen Schema folgen muss.
Tagebuch einer offenen Beziehung
Paul und Lisa sind seit über drei Jahren ein Paar, als Lisa aus beruflichen Gründen die Stadt verlassen muss. Plötzlich ist alles ganz anders, nur die Liebe zueinander ist noch dieselbe. Der unterschiedliche Alltag, die Distanz zwischen den beiden und viele neue Begegnungen regen das Paar dazu an, ihre bisherige monogame Beziehung zu hinterfragen und motivieren sie zu einem Experiment – zunächst nur auf Zeit.
Dies ist ein fiktives Tagebuch über den möglichen Beginn und Verlauf einer offenen Beziehung mit ihren Vorzügen und Problemen. Gleichzeitig ist es aber auch ein Plädoyer, das wenig hinterfragte monogame Beziehungsmodell und Treueprinzip gesellschaftlich und öffentlich zu kritisieren.
Kiel, 21.09.2011. Liebes Tagebuch,
heute sind Paul und ich drei Jahre zusammen. Ich kann es kaum fassen, drei Jahre und es wird immer schöner. Als wir uns damals in der Uni-Mensa kennenlernten, hätte ich nie für möglich gehalten, dass ich in Paul nicht nur meine große Liebe, sondern auch meinen besten Freund finden werde. Nach wie vor bin ich so erfüllt von Liebe und Glück und fühle mich nirgends so geborgen wie in seinen starken Armen, die sich Nacht für Nacht um meine Hüften legen. Ich hoffe, das hört nie auf.
Kiel,18.12.2011. Liebes Tagebuch,
yeahhh, ich hab’s geschafft! Heute früh um acht habe ich meine Master-Arbeit in den Briefkasten geworfen. Ich bin frei. Ich bin endlich frei und weiß gar nicht wohin mit meiner ganzen Freiheit. WOW! Paul und ich wollen erst einmal eine Woche verreisen – wohin ist mir egal, hauptsache weit weg. Was danach kommt, weiß ich noch nicht so genau. In jedem Fall werde ich mich für ein Praktikum beim BUND für Naturschutz bewerben, bleibe aber wahrscheinlich in Kiel, wenn alles klappt. Schließlich ist Paul mit seinem Studium noch nicht ansatzweise fertig. Danach wollen wir aber zurück nach Hamburg, vielleicht sogar in eine eigene Wohnung in der Nähe der Elbe, das wäre schön. Er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni und ich hoffentlich als Umweltwissenschaftlerin.
Kiel, 03.02.2012. Liebes Tagebuch,
ich fasse es nicht, aber ich habe keine Stelle als Praktikantin in Kiel bekommen und auch keine in Hamburg oder Bremen oder sonst irgendwo im Norden. Eine einzige Zusage habe ich erhalten – aus Freiburg. Paul ist ganz außer sich und ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich kann doch nicht hier bleiben und darauf warten, dass Paul irgendwann das Studium wichtiger wird als sein soziales Engagement und er endlich fertig wird. Aber was soll ich alleine in Freiburg – ohne Paul …?! Ich muss nachdenken.
Kiel,17.02.2012. Liebes Tagebuch,
ich habe mich entschieden nach Freiburg zu gehen, auch wenn es mir das Herz zerreißt und unsere Beziehung auf die Probe stellt. Aber Paul und ich, wir gehören zueinander, das wissen wir beide und ich bin mir ganz sicher, dass wir das schaffen …
Freiburg, 09.06.2012. Liebes Tagebuch,
nun bin ich schon knapp vier Monate in Freiburg und die Arbeit beim BUND für Naturschutz macht mir unwahrscheinlich viel Spaß. Das Team ist super und insbesondere mit Martin verstehe ich mich großartig. Er ist ebenfalls Praktikant und kommt ursprünglich aus Wien, ich muss ständig über seinen albernen Akzent lachen. Zwischen Paul und mir ist es nach wie vor wunderbar und manchmal habe ich das Gefühl, dass die Distanz zwischen uns ihn noch spannender für mich macht. Ich freue mich, wenn er bald übers Wochenende kommt.
Freiburg, 16.07.2012. Liebes Tagebuch,
das Wochenende mit Paul war wunderschön und es wiegt mich in Sicherheit, dass die Bindung nicht abbricht, trotz der 850 Kilometer, die zwischen uns liegen. Allerdings bereitet mir das Verhältnis zu Martin ein bisschen Sorge, denn irgendwie fühle ich mich ziemlich zu ihm hingezogen und wenn mich nicht alles täuscht, geht es ihm genauso. Neulich waren wir nach der Arbeit noch ein Bier trinken und irgendwas lag dort definitiv in der Luft. Das verwirrt mich. Zumal mit Paul ja nach wie vor alles so schön ist.
Freiburg, 28.09.2012. Liebes Tagebuch,
ich habe einen großen Fehler gemacht. Ich habe mit Martin geschlafen und ich kann nicht leugnen, dass es großartig war. Was mache ich nur? Ich liebe Paul wirklich. Aber was ist das denn dann mit Martin?
Freiburg, 29.09.2012. Liebes Tagebuch,
nach ewigem Hin- und Herwinden habe ich Paul alles gebeichtet. Wenn wir eines können, dann ehrlich zueinander sein und so hab ich ihm auch gestanden, dass ich mich zu Martin hingezogen fühle, mir aber meiner Gefühle zu ihm immer noch hundertprozentig sicher bin. Was dann kam, überraschte mich, denn Paul zeigte Verständnis. Er habe sich schon seit einigen Wochen mit dem Thema einer offenen Beziehung auseinandergesetzt, denn auch er hatte hin und wieder das Verlangen nach anderen Frauen, trotz seiner Liebe zu mir. Zwar hätte er noch mit keiner Frau geschlafen, weil er erst mit mir über seine Wünsche und Phantasien reden wollte, aber er spiele hin und wieder mit dem Gedanken. Ich bin ziemlich verwirrt. Ich habe noch nie über eine offene Beziehung nachgedacht und wenn ich mir vorstelle, dass Paul mit einer anderen vögelt, überkommt mich ein Gefühl der Eifersucht. Ehrlich gesagt halte ich das Modell der offenen Beziehung für einen letzten verkrampften Versuch die Beziehung zu kitten – ich weiß nicht, ob ich das will.
Freiburg, 02.11.2012. Liebes Tagebuch,
Paul und ich telefonieren in letzter Zeit sehr viel und reden über unsere Beziehung und die Option, diese zu öffnen. Ich hab’ ein spannendes Buch zu dem Thema gefunden und insbesondere ein Absatz bringt mich derzeit ganz schön zum Grübeln:
„Die meisten Menschen beenden lieber ihre Beziehung als das monogame Beziehungsmodell und das damit einhergehende Treuekonzept zu hinterfragen. Dabei waren 9 von 10 Männern und 7 von 10 Frauen schon in einer Beziehung untreu, was deutlich macht, dass Treue die Ausnahme, nicht die Regel ist. Das monogame Liebesmodell beruht auf Vorurteilen und Zumutungen, die aus hedonistischen – ebenso wie aus ethischen Gründen zweifelhaft sind. Für 90 Prozent aller Beziehungssuchenden ist dennoch Treue eines der wichtigsten Kriterien in Sachen funktionierender Liebschaften. Dabei kann Treue lieblose Gewohnheit und Untreue Liebe sein. Und warum muss eine alte Liebe enden, nur weil eine neue beginnt?“
Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll.
Freiburg, 22.12.2012. Liebes Tagebuch,
nach gefühlt 1000 Diskussionen über unsere Partnerschaft haben Paul und ich uns nun probeweise dazu entschieden, unsere Beziehung zu öffnen. Dafür haben wir ein paar wenige Regeln aufgestellt:
- der/die HauptpartnerIn geht immer vor
- keinen ungeschützten Geschlechtsverkehr mit Fremden
- ausschließlich sexuelle Kontakte, keine polyamorösen Parallelbeziehungen
- Absprachen: ja, detaillierte Beschreibung des Aktes: nein
- ehrliche Kommunikation über unsere Gefühle
PS: Ich bin ziemlich aufgeregt.
Freiburg, 26.01.2013. Liebes Tagebuch,
gestern Nacht erreichte mich folgende SMS: „Bin mit ‘nem Mädel nach Hause. Ich liebe dich. Dein Paul.“ Ich bin wütend, traurig und verletzt. Warum macht er das? Und viel schlimmer: Warum überkommt mich jetzt eine Welle der Eifersucht? Wir haben doch alles so besprochen. Es müsste doch alles für mich in Ordnung sein. Wo verdammt liegt mein Problem? Ich hab’ mit meiner Freundin Marlene aus Bielefeld telefoniert, die seit mehreren Jahren in einer offenen Beziehung lebt und immer davon schwärmt, wie frei sie ist und wie gut alles funktioniert. Sie sagt meine Reaktion sei völlig normal, schließlich sei es das erste Mal. Aber ich solle das Gefühl ernst nehmen und mich mit der Eifersucht auseinandersetzen, mich fragen, ob es nicht vielmehr mit mir und der Angst „nicht zu genügen“ zu tun hat. Schließlich würde ich mich ja sexuell auch anderweitig ausprobieren wollen. Kleinlaut murre ich, dass sie wohl recht hat und lege auf. Ich blättere noch ein wenig in dem Buch „Lob der offenen Beziehung“ und gehe dann schlafen.
Freiburg, 30.02.2013. Liebes Tagebuch,
ich hatte Sex. Am Wochenende war ich mit Freunden im Club, direkt bei mir um die Ecke und da hab ich Markus kennengelernt. Er studiert in Freiburg Medienkultur, ist 29 und riecht unglaublich gut. Wir haben viel geredet, irgendwann geknutscht und dann sind wir zu ihm. Es war fabelhaft. An Paul hab ich nicht gedacht – keine Sekunde. Ich hab’s ihm aber abends am Telefon gesagt. Für mich war diese Nacht wichtig, denn ich habe für mich entdeckt und verstanden, dass Sex nicht zwangsläufig was mit Liebe zu tun und überhaupt gar keinen Einfluss auf die Beziehung zu Paul hat.
Freiburg, 13.07.2013. Liebes Tagebuch,
unser Experiment läuft nun schon seit ein paar Monaten und irgendwie wird’s immer besser. Wir haben offensichtlich unseren Rhythmus und Umgang damit gefunden und trotz der Eifersuchtswellen, die hin und wieder meinen Körper durchfluten, weiß ich, dass ich mir Pauls Liebe immer sicher sein kann. Sexuell eröffnet es mir ungemeine Freiheit und ich probiere nicht nur neue Dinge aus, ich stelle auch immer wieder fest, wie unterschiedlich Sex doch sein kann. Aber auch für unsere Beziehung ist es sexuell förderlich, so frei zu sein. Wir sind im Umgang damit viel offener geworden und haben klarere Vorstellungen davon, was wir mögen. Mittlerweile würde ich sogar behaupten, dass dieser ganze „du-gehörst-mir-und-darfst-deinen-Körper-mit-niemandem-teilen-Quatsch“ ziemlicher Unfug ist, auch wenn es uns medial und gesellschaftlich immer so vorgelebt wird. Ja, es braucht Mut und Kraft, ein bisschen Zeit und viel Reflexion, aber es funktioniert.
Hamburg, 21.09.2014. Liebes Tagebuch,
ich hab’ schon lange nichts mehr geschrieben, doch ich glaube das ist ein gutes Zeichen. Paul und ich feiern heute unser sechsjähriges Jubiläum und ich bin glücklicher als je zuvor. Außerdem hat Paul vor einigen Monaten seinen Uni-Abschluss geschafft und sogar schon eine feste Stelle an der Uni Hamburg. Ich bewerbe mich derzeit als Projektleiterin beim BUND für Naturschutz in der Hansestadt – ich habe die Schnauze voll von Freiburg und dem „ohne-Paul-sein“.
Dass wir unsere Fernbeziehung so wundenfrei überstanden haben, hätte ich anfänglich nie geglaubt. Unser Experiment der offenen Beziehung war das beste, was wir je gemacht haben. Ich habe so viel über mich und unsere Beziehung gelernt und Paul ist mir näher denn je. Aber auch nach dieser Phase werden wir in Hamburg damit weitermachen, denn wir haben beide verstanden: Erzwungene Treue und krampfhaftes Festhalten an einer exklusiven Zweier-Partnerschaft is’ nicht unser Ding. Vielmehr wollen wir ein neues Experiment wagen: den Swinger Club.
Anna Siewert