Kohlfahrt? Pinkel? Ecken-Trinken? In Bremen gibt es so einige Traditionen, die einem als Norddeutsch-Neuling nur den Kopf schütteln lassen. Bei Schnee und Regen durch Wald und Wiesen mit dem Bollerwagen ziehen, Schnaps für drei trinken und am Ende einen Berg Kohl essen. Ja, warum eigentlich nicht, frage ich mich da und ziehe los – ein Alien auf Kohlfahrt.
Unter der nassen Plane dröhnt scheppernd deutscher Hip Hop aus einem alten Ghettoblaster, der seinen Platz zwischen klebrigen Likören, leeren Bierflaschen und angeknabberten Brezeln gefunden hat. Die Sonne geht langsam unter, an meinem durchnässten Stiefel hängt abgerissenes rotes Geschenkbank und auf meiner Brust klebt mein Name. Ich tapse weiter, höre im Hintergrund: „Geil, geil, geil“ und stimme sofort mit ein in den Choral der schnapsvernebelten Freunde: Denn eins kann mir keiner nehmen – und das ist die pure Lust am Leben. Nein, halt, stopp. Alles auf Anfang.
15:30 Uhr: Eine wahrlich unchristliche Zeit, um das erste Bier ploppen zu lassen, aber der Tradition zuliebe ist ein Wartebier am Anfang einer Kohlfahrt durchaus legitim. Aus Ermangelung eines echten Henkelschnapsglases habe ich mir eine kleine Espresso-Tasse mit Paketband um den Hals gebunden. Im Bus erhalte ich die erste Warnung des Tages: „Damit kommen sie aber nicht weit. Wenn Sie das Tässchen immer voll machen, nech. Da sind sie ja schon fertig, bevor‘s überhaupt erst losgeht“, rät mir eine alte Dame mit schlohweißem Haar und lacht. Dennoch wünscht sie mir „eine schöne Tour!“ und steigt aus der Bahn. Draußen lasse ich mich vom Bremer Regen in Empfang nehmen. Hello, erste Kohlfahrt meines Lebens.
Check 1: Schnapsglas und Brezel um den Hals
16: 30 Uhr: Das Ko(h)lektiv zieht los. (Schlechter Wortwitz, aber auf den hatte ich mich schon vor dem Bericht tierisch gefreut.) Obwohl losziehen schon fast übertrieben ist: Der Pulk aus 50 Medienstudenten schafft es gerade einmal 20 Meter weiter auf die andere Straßenseite. Denn da wartet die erste Ecke und damit der erste Trinkstopp nach dem Begrüßungstrunk. Mein kleines Espressotässchen füllt sich mit klebrigem Likör. Der Regen tröpfelt unbeirrt auf uns Kohlgänger weiter. Die Stimmung kann eigentlich nicht besser werden.
Check 2: Wer an jeder Ecke trinken will, sollte das nicht aus Espressogläsern tun
17:00 Uhr: Halt stopp! Kaum 20 Meter weitergetrippelt heißt es „Spielpause!“ Ich frage mich ernsthaft, ob wir in diesem Tempo überhaupt irgendwann mal irgendwo ankommen, doch die Route ist sorgfältig geplant und mit dem fast fünffachen einer nüchternen Gehzeit hoffentlich realistisch kalkuliert. Meine Gruppe belegt den zweiten Platz im Teebeutel-Weitwurf, der mit dem Mund ausgeführt wird. Ein Prost auf die abgelieferte Performance und es kann weitergehen.
Check 3: Wer kohltouren will, muss geduldig sein
17:30 Uhr: Die erste Begegnung mit einer anderen Kohltourtruppe. Überschwängliche Begrüßung. High five. Nicht nur wir scheinen das schlechte Wetter zu nutzen, auch andere Bremer scheinen den heutigen Tag als Kohl-konform zu betrachten. Was ursprünglich im 19. Jahrhundert nur wohlhabenden Geschäftsleuten im Oldenburger und Bremer Raum mit Pferdegespannen vorbehalten war, steht nun jedem Normalo offen. Mit der Ausnahme, heute arme Studenten vor einen Bollerwagen zu spannen anstatt vor edle Rösser. Gemeinsam geblieben ist aber der gemeinschaftliche Grünkohlverzehr in einem Landgasthaus. Da Grünkohl so ziemlich das einzige ist, das bei den frostigen Temperaturen noch überlebt, lag es wohl schon immer auf der Hand, ihn vornehmlich im Winter zu verspeisen. So oder so ähnlich hat sich die Tradition eines Ausflugs mit anschließendem Wirtshausbesuch anscheinend etabliert. So langsam bekomme auch ich Hunger…
Check 4: Was früher der Adel tat, kann der Pöbel heute schon längst
18:30 Uhr: Die Sonne ist untergegangen. Der Bollerwagen rollt gemächlich vor sich hin, die Gruppe hat sich über gefühlte hundert Meter verteilt. Gepflegte Konversationen sind möglich, aber meist nur noch in gesungener Darbietung. Die Spielerunde ist abgebrochen. Unser Ghettoblaster hat sich mit Wasser vollgesogen. Die letzten Meter sind zu schaffen und wie Xavier Naidoo schon wusste: „Dieser Weg wird kein leichter sein…“
Check 5: Ein ordentliches Repertoire an Liedgut kann nie schaden
19:00 Uhr until infinity: Ankunft im Restaurant: schlingen, prosten, singen. Auf 50 Tellern stapeln sich übertrieben grüne Pflanzenberge und Pinkel, eine geräucherte, grobkörnige Wurst. Ich kann kaum mehr und rolle bei der Krönung des Kohlkönigspaars fast vom Stuhl, als ich erfahre, dass ich nun Kohlkönigin sei. „Geil, geil, geil“, murmle ich nur noch und bin mir in diesem Moment gewiss: Diese Tradition ist es wert, gelebt zu werden.
Jana Wagner