Wo fühlen wir uns zuhause? Ist es ein Ort, eine Erinnerung, oder ein Gefühl? Es kann von persönlichen Erfahrungen bis hin zu den Auswirkungen gesellschaftlicher Strukturen vieles beinhalten, wie Krosse Reporterin Luisa Hoffmann beschreibt.
Mit neun Jahren bin ich zum ersten Mal zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten gegangen. Nicht freiwillig, sondern weil meine Mutter der Meinung war, dass meine Schlaf- und Zwangsstörungen die Folge der Trennung meiner Eltern sein müssen. Als ich fünf Jahre alt war, haben sie sich getrennt und während der Therapiestunden wurde, wenn ich nicht gerade einfach vor den Laptop gesetzt wurde, um irgendwelche Konzentrationsspiele zu spielen, sehr häufig über die Scheidung geredet. Da mein Vater nach der Trennung aus Berlin weggezogen ist, haben meine Schwester und ich ihn nur sehr selten gesehen. Er ist häufig umgezogen und wir hatten nie einen konstanten Ort, um ihn zu besuchen.
Der Therapeut hat vorgeschlagen, dass mein Vater doch das nächste Mal, wenn er meine Schwester und mich besucht, mit mir zur Therapiestunde kommen solle. Und da saßen wir nun. In einem mittelgroßen weißen Raum mit buntem Teppich und Spielen in der Ecke. Zwei Computer gegenüber voneinander auf dem mittig stehenden Schreibtisch und drei schwarze, im Kreis aufgestellte Stühle daneben. Eine total ungewohnte Situation, die in mir direkt ein Gefühl von Unwohlsein auslöste, weil es mir vorkam wie ein Verhör. Mein Therapeut fragte mich: „Würdest du sagen, dass da, wo dein Vater momentan lebt, dein Zuhause ist?“ Ohne zu überlegen, habe ich mit „Ja“ geantwortet. Er sagte daraufhin: „Aber du bist da doch so selten. Du hast nicht mal ein eigenes Zimmer, geschweige denn eigene Möbel, Sachen, Freunde… und du willst das dein Zuhause nennen?“ Meine Augen wurden feucht und ich fing an zu weinen. Mein Vater wollte mich in den Arm nehmen und trösten. Der Therapeut hat es ihm verboten, weil ich erstmal allein „klarkommen“ sollte. „Warum empfindest du es als dein Zuhause?!, fragte er mich. „Es ist doch der Ort, wo mein Papi lebt, den ich lieb habe”, entgegnete ich. Es war das letzte Mal, dass ich bei dem Psychotherapeuten war.
Zuhause: mehr als nur ein Ort
Mehr als 10 Jahre sind inzwischen vergangen und diese Konversation ist immer noch sehr präsent in meinem Kopf. Ich habe viel über die Thematik Zuhause nachgedacht und was dieses Wort eigentlich bedeutet, beziehungsweise wofür es steht. Auf eine eindeutige Antwort bin ich nie gekommen. Die Bedeutung dahinter ist, denke ich, stark subjektiv und kann von vielen verschiedenen Faktoren beeinflusst werden. Beispielsweise kann die Qualität der Beziehungen zu Familienmitgliedern oder Freunden eine hohe Gewichtung haben, aber auch die physische Umgebung, also wie wohl und sicher man sich in seinen eigenen vier Wänden fühlt. Worte, die mir direkt in den Sinn kommen, wenn ich an Zuhause denke, sind Sicherheit und Geborgenheit. Das begründet womöglich auch meine Antwort auf die Frage des Therapeuten. Zuhause ist meiner Meinung nach nämlich nicht auf einen physischen Raum beschränkt, sondern ein Gefühl, das entweder besteht oder eben nicht. Vielleicht kann sich dieses auch erst entwickeln oder gar verschwinden. „Home is where the heart is!, sagte meine Mutter, als ich mit ihr über die Thematik gesprochen habe. Oftmals sind es Personen, die einem das Gefühl von Zuhause bieten. “Hab’ keine Heimat, ich hab’ nur dich / Du bist Zuhause für immer und mich”, ist eine Liedzeile von Henning May, dem Sänger der deutschen Band AnnenMayKantereit, die das sehr gut zum Ausdruck bringt. All dem würde ich vor allem aufgrund meiner Kindheitserfahrungen zustimmen. Es sind also Personen, die man lieb gewonnen hat, die das Gefühl von Sicherheit und Wohlbefinden auslösen unabhängig von Ort und materiellem Wohnraum.
Zuhause ist ein Zusammenspiel aus Erfahrungen, Privilegien und sozialen Einflüssen
Genau diese Aussage bringt mich zu einem meiner Hauptgedanken, wenn es um das Thema geht. Auch Erfahrungen, sowohl positive als auch negative, haben einen enormen Einfluss auf die Vorstellung von dem, was Zuhause eigentlich bedeutet. Da Erfahrungen aber immer etwas Individuelles sind, ist auch die Bedeutung hinter dem Wort Zuhause eine sehr individuelle. Meiner Meinung nach hängt die Sichtweise auf die Beantwortung der Frage nach dem, was Zuhause wirklich bedeutet, nämlich auch stark mit den eigenen Privilegien zusammen.
„Ein Ort mit den richtigen Leuten, an dem man sich wohl, geborgen und sicher fühlt. Auch, wenn ich dich in Bremen besuche, fühle ich mich Zuhause!“, erzählt mir meine Schwester. In diesem Fall bin ich als enges Familienmitglied der Grund, weswegen sie sich auch in einer ihr fremden Stadt Zuhause fühlen kann. „Es sind einfach verschiedene Sachen, die zusammenspielen!“, entgegnet daraufhin eine Freundin. Genau das ist der Punkt: Das Zusammenspiel von Menschen, Orten und positiven Gefühlen. Unsere Privilegien und das Umfeld, indem wir aufgewachsen sind, lassen uns allerdings erst so über das Thema Zuhause denken. Ein Dach über dem Kopf, eine mich liebende Mutter oder Freiheit in meiner Art, mich zu kleiden, zu bewegen und zu denken, sind ebenfalls mögliche Antworten. Antworten, die nicht gerade selten fallen, weil die Mehrheit der Menschen nicht die Standards und Privilegien haben, die wir als deutsche Mittel-/ Oberschicht haben. Zuhause ist ein Thema, das tief in den sozialen und kulturellen Strukturen der Gesellschaft verwurzelt ist. Traditionen, Werte und Erwartungen spielen eine große Rolle bei der Vorstellung, was ein Zuhause ausmacht. Regelmäßige Familientreffen oder gemeinsames Abendessen sind für ein paar Familien selbstverständlich, für andere unvorstellbar. All diese kleinen Dinge formen die Vorstellung von Zuhause auf ganz individuelle Weise.
Nicht alle Menschen haben das Privileg, ein sicheres Zuhause zu haben. Wohnungslosigkeit beispielsweise führt zu einem Leben auf der Straße oder in überfüllten und unhygienischen Unterkünften. Der Aspekt der Sicherheit fällt weg. Auch die zunehmende Gentrifizierung, also der Prozess, bei dem einkommensschwache Menschen durch wohlhabendere BewohnerInnen und Unternehmen verdrängt werden, bildet ein gutes Beispiel für Situationen, in denen man nicht von einem sicheren Zuhause sprechen kann. In meiner Heimatstadt Berlin beispielsweise hat der Stadtteil Kreuzberg in den letzten Jahren einen starken Wandel erlebt. Durch steigende Mieten und Immobilienpreise wurden einkommensschwache Familien oder junge Leute gezwungen, sich neue Wohnungen in anderen Stadtteilen oder sogar außerhalb der Stadt zu suchen. Stattdessen zogen wohlhabendere EinwohnerInnen, Berufstätige und Touristen in den Bezirk. Das Gefühl von Zugehörigkeit und Vertrautheit fällt weg, da Menschen gezwungen sind, ihre sozialen Netzwerke, Nachbarschaftsbeziehungen und kulturellen Bindungen aufzugeben. Heute hat Kreuzberg einen ganz anderen Charakter als zu meiner Kindheit, weil die kulturelle Vielfalt stark abgenommen hat. Durch Verdrängung verändert sich das Gefühl, sich wohl und Zuhause zu fühlen, weil viel Vertrautes wegfällt.
Statt eines Orts, geprägt von Geborgenheit und Sicherheit, kann das Zuhause auch durch häusliche Gewalt ganz schnell zu einem Ort der Angst und Unsicherheit werden. Nach Hause kommen bedeutet dann psychische Belastung und Hilflosigkeit, obwohl es eigentlich das Gegenteilige bedeuten sollte. Bei der Präsentation des Lagebilds zur Häuslichen Gewalt 2022 in Berlin äußerte Bundesfamilienministerin Lisa Paus zusammen mit Bundesinnenministerin Nancy Faeser und BKA- Präsident Holger Münch: „Fast alle zwei Minuten wird in Deutschland ein Mensch Opfer von häuslicher Gewalt. Jede Stunde werden mehr als 14 Frauen Opfer von Partnerschaftsgewalt“. Diese Zahlen verdeutlichen das Ausmaß der Krise und die dringende Notwendigkeit von Maßnahmen zur Prävention und Unterstützung der Opfer.
„Home is where the heart is!“
Dies sind nur ein paar extremere Beispiele, um zu verdeutlichen, wie vielschichtig das Gefühl und die Vorstellung von Zuhause sein können. Es handelt sich um ein subjektives Gefühl, das von einer Vielzahl von individuellen und sozialen Faktoren beeinflusst wird. Ein harmonisches Familienumfeld kann dazu beitragen, dass man sein Zuhause als Ort der Liebe, Unterstützung und Geborgenheit betrachtet, während schwierige Beziehungen zu Konflikten und Unwohlsein führen können. Auch die früheren Erfahrungen im Kindesalter können die Wahrnehmung des eigenen Zuhauses prägen. Beispielsweise hat meine zuvor geschilderte Situation mit meinem Vater dazu geführt, dass für mich nicht das Einfamilienhaus mit Hund und Garten meine Vorstellung von Zuhause ist, sondern vielmehr die Menschen, bei denen ich mich wohl, akzeptiert und frei fühle. FreundInnen, mit denen ich darüber geredet habe, hatten, was das angeht, unterschiedliche Ansichten, weil sie mit anderen Erinnerungen an ihr früheres Zuhause aufgewachsen sind. Viele von ihnen haben auch trotz Auszug immer noch ein Zimmer in dem Haus ihrer Eltern, weil es ihnen wichtig ist, dort, wo sie aufgewachsen sind und es ihr zu Hause nennen, immer noch ihre Einrichtung zu haben. Persönliche Erfahrungen spielen also eine große Rolle bei der Frage, was Zuhause eigentlich bedeutet.
Letztendlich bleibt Zuhause eine persönliche und subjektive Erfahrung, die von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst wird. Für die einen ist es mehr der Ort, der in ihnen das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit weckt, für die anderen sind es eher die Leute, mit denen sie diese Gefühle verbinden. Durch die Trennung meiner Eltern und das viele Umziehen meines Vaters habe ich im Laufe meines Lebens ganz unbewusst mehr Fokus auf die Leute gelegt, die in mir das Gefühl von Zuhause auslösen. Mir war es nicht wichtig, mein eigenes Zimmer mit meinen Sachen bei ihm zu haben, weil ich ihn lieb habe und er ohne Hinterfragen mein Zuhause mit all den mir wichtigen Aspekten bildet. Dort, wo er war, habe ich mich wohlgefühlt. Jeder verbindet mit dem Wort Zuhause etwas anderes und genau das macht das Thema so schön und interessant. Was jedoch unbestreitbar bleibt, ist die Bedeutung von Geborgenheit, Sicherheit und Zugehörigkeit, egal wo oder mit wem man sie findet.
von Luisa Hoffmann