Das “Viertel” ist der mit Abstand bekannteste Ortsteil Bremens. Doch, was viele nicht wissen: Das heutige Kultviertel sollte nach dem Willen der Politik in den 1970er Jahren komplett verändert werden. Mutige Bremer Bürger*innen haben damals erfolgreich Widerstand geleistet.
Es ist einer der Hotspots für junge Leute in Bremen. Verwinkelte Gassen, urige Kneipen, hippe Bars und Cafés prägen das Ostertor- und Steintorviertel – gerne auch nur „das Viertel“ genannt. Diese bunte und belebte Gegend hat sich in den letzten Jahrzehnten zum Szeneviertel der Stadt entwickelt. Doch wieso ist gerade dieser Stadtteil so beliebt bei Jung und Alt? Einer der Gründe liegt in der Verkehrsplanung des letzten Jahrhunderts.
Denn dort, wo sich heute im Sommer die Bremer*innen gerne treffen, wollte der Senat eine graue Betonwüste umrandet von Hochhäusern errichten. „Nicht mit uns“, dachten sich die Anwohner*innen damals und prägten mit diesem Widerstand das Leben im Viertel bis heute.
Stadtplanung für Autos
Wie in den meisten Städten wurde auch in Bremen seit den 1920er-Jahren die Verkehrsplanung zunehmend auf das Auto abgestimmt. Das Problem: Autos nehmen viel Platz in Anspruch. Damit der Verkehr also nicht ins Stocken gerät, mussten nach und nach bestehende Straßen ausgebaut werden. Da der Ausbau allein aber nicht reichte, wurden gleichzeitig auch neue Straßen und Autobahnen gebaut.
Eines der Prestige-Verkehrsprojekte des Senats aus dem letzten Jahrhundert war der Bau eines neuen Stadtautobahnnetzwerks. Als mittig gelegener Stadtteil wirkte sich dies auch auf das Viertel aus. Der Rembertiring machte den Anfang, von dort aus sollte es dann weiter nach Schwachhausen und in die Neustadt gehen.
Die Strecke vom Rembertiviertel bis in die Neustadt sollte auf einer Breite von 120 Metern Platz für den Individualverkehr schaffen. Um die beiden Stadtteile miteinander zu verbinden, plante man den Verlauf der Stadtautobahn direkt durch das Viertel laufen zu lassen. Weiter sollte es dann auf Höhe der Mozartstraße über die geplante „Mozart-Brücke“ durch das Naturerholungsgebiet auf der Werderinsel und weiter bis ins Buntentorviertel auf der gegenüberliegenden Weserseite gehen.
Der Verfall eines Stadtteils
Die Konsequenz der Planung: Die Stadt setzte einen Renovierungs- und Baustopp für Gebäude im Ostertorviertel durch. Zeitgleich kaufte sie für viele Millionen nach und nach Häuser auf oder enteignete die Eigentümer*innen. Die beabsichtigte Folge: Zahlreiche Gebäude wurden vernachlässigt, unbewohnbar und schlussendlich abgerissen. Unsicherheit über die Zukunft des Ostertorviertels machte sich bei den übrigen Bewohner*innen breit. Die Mieten in der Gegend begannen zu sinken – heute fast unvorstellbar. 1970 betrugen die Mieten im Ostertor im Durchschnitt 2,66 DM (1,36 €) pro m². Nur zum Vergleich: Heutzutage sind es durchschnittlich rund 14 €/m².
So wurde das Viertel zu dieser Zeit vor allem für junge Leute und Gastarbeiter*innen attraktiv. Viele von ihnen zogen in den 60er- und 70er-Jahren nach Ostertor, um von den niedrigen Mieten zu profitieren. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Bevölkerung im Ostertorviertel noch deutlich älter als in anderen Stadtteilen und damit weit entfernt von dem Viertel, das wir heute kennen.
Der Traum von der Millionenstadt
Rund 600 Häuser wollte die Stadt – gegen den Willen der Bürger*innen – für den Bau der Mozarttrasse abreißen. Der dadurch verloren gegangene Wohnraum sollte durch Neubauten ausgeglichen werden. Denn der Senat rechnete damit, dass sich Bremen nach der Jahrtausendwende zu einer Millionen-Metropole entwickeln würde und suchte daher nach Lösungen, wie man sowohl Platz zum Wohnen als auch für den Autoverkehr schaffen kann. Um im Ostertorviertel mehr Menschen unterzubringen, plante man daher, Hochhäuser mit bis zu 28 Stockwerken entlang der Trasse zu bauen. Sie sollten dafür sorgen, dass die Einwohnerzahl im Ostertor trotz des großflächigen Abrisses steigt. Wo vorher noch rund 8000 Menschen lebten, sollten schon bald 25.000 aufeinandergestapelt wohnen können.
Die Bremer*innen gingen in den Widerstand
Für die Anwohner*innen war dieses Projekt jedoch nicht tragbar. Es gab bereits von Anfang an einen großen Widerstand in der Bevölkerung gegen die Trasse und den Abriss der historischen Wohnhäuser. Trotzdem gingen die Planungen im Bauressort weiter und das, ohne das Gespräch mit den Menschen vor Ort zu suchen. Doch genau das wurde dem Bausenator letztlich zum Verhängnis. Denn die Menschen im Viertel begannen sich zu mobilisieren. Schnell bildete sich eine Bürgerinitiative zum Erhalt des Ostertorviertels.
Unterstützt wurden sie von der Hausbesetzer-Szene. Den Anfang machte die Aktionsgruppe „Sternchen“. Sie sammelte sich unter dem Motto „Anarchie ist machbar, Frau Nachbar“ in einem Gebäude nahe des Rembertirings. Viele andere machten es ihnen nach und übernahmen nach und nach die leer stehenden Wohnungen im Viertel.
Die Bürger*innen haben gewonnen
1973 war es dann so weit: Die Bürgerschaftsfraktion der damals alleinigen Regierungspartei SPD traf sich, um endgültig über die Pläne zum Bau der Mozarttrasse und damit die Zukunft des Stadtteils Ostertor zu entscheiden. Am 4. Dezember dann das Ergebnis: Die Abgeordneten stimmten trotz der Proteste aus der Bevölkerung mit einer knappen Mehrheit für das Projekt. Doch ihre Entscheidung hielt keine 24 Stunden. Vielen Abgeordneten war das knappe Ergebnis nicht geheuer. Als sie die Abstimmung am nächsten Tag wiederholten, wurde die Trassenplanung ohne Gegenstimmen abgelehnt. Der Weser Kurier bezeichnete die Aufhebung des Beschlusses innerhalb so kurzer Zeit damals als „politisches Kunststück“. Die Bewohner*innen konnten endlich aufatmen: Sie hatten das Viertel nach langem Kämpfen vor dem Bau der Autobahn gerettet.
Wie es für das Viertel weiterging
Nach der Entscheidung gab es noch viel zu tun: Das Bauressort entschied sich dazu, das vorher noch stark vernachlässigte Ostertorviertel wieder auf Vordermann zu bringen. Viele Häuser wurden in die Denkmalpflegeliste aufgenommen und konnten mit Hilfe von Fördergeldern saniert werden. Dieses jahrelange Hin und Her hat das Viertel bis heute geprägt: Die niedrigen Mieten und vielen Hausbesetzungen sorgten dafür, dass das Durchschnittsalter der Bewohner*innen im Viertel mit der Zeit überdurchschnittlich stark sank. Gleichzeitig siedelte sich die Linke-Szene Bremens im Viertel an und verwandelte so das Ostertorviertel in ein beliebtes Szeneviertel für junge Menschen in der Stadt Bremen. Während der Geist des Widerstandes noch immer deutlich im Viertel spürbar ist, hinterlässt die Gentrifizierung aber auch hier schon seine ersten Spuren. Von Mietpreisen ab 0,75 DM (0,38 €) wie im Jahre 1969 kann man heute nur noch träumen. In den letzten Jahren sind die Mieten immer weiter angestiegen und viele der alteingesessenen Geschäfte mussten schließen.
von Jonas Theuer