Die Serie „Deutsches Haus“ taucht ein in die Auschwitzprozesse der 60er Jahre und bricht konsequent das Schweigen einer ganzen Generation. Dabei beweisen die Macher*innen, dass auch deutsche Produktionen sich einen Platz auf den Streaming-Plattformen verdient haben.
Frankfurt am Main, 1963, kurz vor Weihnachten. Eva Bruhns (Katharina Stark) steht in einem Blümchenkleid vor der Gaststätte ihrer Eltern Edith und Ludwig (Anke Engelke und Hans-Jochen Wagner) und wartet auf ihren zukünftigen Verlobten, den Millionenerben Jürgen Schoormann (Thomas Prenn). Kurze Zeit später sitzen alle in der Wohnung der Families Bruhns die sich direkt über ihrer Gaststätte „Deutsches Haus“ befindet. Zwischen schickem Porzellan und Gänsebraten, beäugen ihre Eltern, sowie die ältere Schwester Annegret (Ricarda Seifried) und der kleine Bruder Stefan (Ares Kloß), den Schwiegersohn in Spee. Familie Bruhns ist das Idealbild einer deutschen Familie der 60er Jahre. Hier ist alles perfekt, hier ist alles in Ordnung.
Die Fassade bröckelt
Und hätte das Telefon nicht geklingelt, wäre diese Illusion vermutlich auch eine geblieben. Eva Bruhns ist Polnisch-Dolmetscherin. Am anderen Ende des klingelnden Telefons ist ihr Chef. Sie wird dringend gebraucht, denn am Donnerstag beginnt ein wichtiger Prozess am Oberlandesgericht Frankfurt. Dabei handelt es sich jedoch nicht, wie Eva erst vermutet, um einen Prozess wegen mangelhafter Bauteile, sondern um den Beginn eines neuen Kapitels der deutschen Geschichte – der Beginn der Auschwitz-Prozesse, den die historische Dramaserie “Deutsches Haus” nach dem gleichnamigen Bestseller-Roman von Anette Hess nachzeichnet. Im ersten Gespräch mit einem Überlebenden aus dem Konzentrationslager Auschwitz unterlaufen ihr mehrere Übersetzungsfehler. Herberge statt Block, Gäste statt Gefangene, Licht statt Gas. Sie hört das erste Mal von den Gräueltaten der Nazis und wird mit den Worten entlassen: „Lernen sie schonmal das notwenige Vokabular. Alle erdenklichen Wörter, wie man Menschen töten kann“. Schockiert will sie von ihren Eltern mehr wissen – stößt dort aber auf vermeintliche Unwissenheit. Trotz der Übersetzungsfehler und gegen den Willen ihres Umfelds übernimmt sie die Übersetzung auch im Rest des Prozesses. Jedoch wird ihr dabei nicht nur das Ausmaß der Massenvernichtungsindustrie bewusst, sondern auch ihre persönliche Verbindung zu Auschwitz und die Verflechtung ihrer Eltern mit dem Konzentrationslager.
Das Schweigen der Nachkriegszeit ganz laut
Anette Hess, die als Drehbuchautorin durch die Serien “Ku’damm 56” und “Weißensee” bekannt geworden ist und für Deutsches Haus nicht nur als Buch-, sondern auch als Drehbuchautorin auftritt, gelingt es dabei, die Auschwitz-Prozesse in einer neuen Perspektive zu zeigen. Denn selten schafft es die durchschnittliche Familie der Nachkriegszeit auf den Bildschirm, Nazis wie unsere Großeltern und Urgroßeltern es waren. Die, die weggesehen haben und die ja eigentlich gar keine Nazis waren – wenn man den Familienanekdoten Glauben schenken kann. “Deutsches Haus” stellt allerdings genau diese Familien in den Mittelpunkt. Eva Bruhns ist dabei die perfekte Protagonistin. Mit ihrer anfänglichen Naivität begleitet sie uns von einer vermeintlich perfekten Welt in die Tiefen des Dritten Reiches und schafft es, ihre eigenen Gefühle und Gedanken auf die Zuschauer*innen zu übertragen, sodass man selbst immer wieder aufgerüttelt und zum Nachdenken angeregt wird. Sinnbildlich steht sie allerdings auch für eine ganze Generation die sich dem Schweigen der Eltern entgegensetzt und sich für die Aufarbeitung des Nationalsozialismus einsetzt. Es ist allerdings nicht nur dieser Perspektivwechsel, sondern auch die umfangreichen Facetten und Emotionen der Prozesse, die eingefangen werden. Evas Eltern Edith und Ludwig , die sich immer wieder ihrer eigenen Schuld bewusst werden, um diese kurz darauf wieder zu verdrängen, ja fast schon albern und kindlich zu überspielen versuchen. Der jüdische Staatsanwalt David Miller (Aaron Altaras), der Teil des Anklageteams ist und schließlich von der Schuld selbst, die Shoah überlebt zu haben, eingeholt wird. Die zahlreichen Zeug*innen, die im Prozess aussagen, weil sie es denen schulden, die nicht überlebt haben, wohlwissend, dass selbst eine Verurteilung all das nicht ungeschehen machen kann. Die SS-Offiziere, die spottend und lachend auf der Anklagebank sitzen und alle Schuld von sich weisen.
Beeindruckende Szenen mit kleinen Schwächen
Die Regisseurinnen Isabel Prahl (Folge 1-3) und Randa Chahoud (Folge 4 und 5) schaffen dabei, in den jeweils einstündigen Folgen, immer wieder eindrucksvolle Szenen. Eine davon ist die Verlesung der Anklageschrift, welche sich über mehrere Minuten streckt, in denen der Gerichtssprecher von den Verbrechen der Nationalsozialisten erzählt. Die Aussagen in den Prozessen basieren – bis auf einige dramaturgische Ergänzungen – auf den originalen Prozessaufnahmen und zeigen damit die Prozesse im dokumentarischen Charakter, ohne dabei zu sachlich zu werden. Zudem fängt die Serie den Zeitgeist der 60er Jahre ein: den aufstrebenden Wohlstand, die beginnende Emanzipation und Aufbruchsstimmung, technologischer Fortschritt. Aber auch Aufarbeitung und Verdrängung, Schuld und hartnäckiger Antisemitismus. Und das alles zwischen Bratwurst und Mustertapete. Dass die Serie auf der Streaming-Plattform Disney Plus zu sehen ist, ist dabei durchaus verwunderlich. Denn sowohl beide Regisseurinnen als auch die Drehbuchautorin Anette Hess haben hauptsächlich Geschichten für das öffentlich-rechtliche Fernsehen produziert. Doch „Deutsches Haus“ zeigt, dass auch deutsche Serienmacher*innen beeindruckende Bilder auf Netflix-Niveau kreieren können.
Allerdings wird die eigentlich sehr gelungene Aufbereitung der Thematik durch viele zu gewollte und überspitzte Nebenhandlungen gedämpft und nimmt damit den Fokus teils zu stark vom eigentlichen Handlungsstrang. Viele Geschichten wie die von David Miller werden nur sehr beiläufig erwähnt und machen neugierig auf mehr Hintergründe. So verschwindet David am Abreisetag nach einer Besichtigung in Auschwitz spurlos, nachdem er zugibt, dass er nicht, wie er selbst sagte, im Konzentrationslager war. Es stellt sich heraus, dass Evas Schwester Annegret Kinder auf der Säuglingsstation mit Kolibakterien infizierte, nur um sich schließlich als Retterin aufzuspielen und selbst der kleine Stefan tötet in einer Szene einen Vogel und so könnte man diese Liste für alle Charaktere weiterführen. Auch wenn es sich vermutlich um eine dramaturgische Entscheidung handelte, die von den umfangreichen Lebensrealitäten der Menschen im Zweiten Weltkrieg erzählen sollte, kann eine fünfstündige Serie diese Ambitionen leider nicht auffangen. Stattdessen wird der Prozess vor allem in der letzten Folge zu stark in den Hintergrund gerückt, was der Serie den Wind aus den Segeln nimmt.
Dennoch ist “Deutsches Haus” im Ganzen eine mitreißende Serie über die Auschwitzprozesse, die erschüttert, berührt und vor allem immer wieder ganz bewusst zum Nachdenken anregt. Dabei ist die Serie in Zeiten von zunehmendem Antisemitismus, Rassismus und „Remigrationsplänen“ aktueller denn je und hat definitiv einen Platz auf jeder Watchlist verdient.
“Deutsches Haus” ist seit dem 15. November 2023 auf dem Streamingdienst Disney Plus verfügbar.
von Marieke Hennemann